Lillehammer, Norwegen [Gegenwart]

Jesper schien Richard sofort zuzustimmen und der war abermals darüber verwundert, wie klug der Kleine war. Er war gerade dabei darüber nachzudenken, was Oystein wohl genau bei dem Kleinen gemacht hatte, da rissen ihn Runes Worte aus den Gedanken. Etwas ungläubig starrte Richard zu dem Cyborg hinüber. Zum Glück sprach sein kleiner Bruder genau das aus, was Richard dachte. Richard wandte seinen Blick wieder geradeaus, während er immer noch etwas ungläubig dreinblickend dem Gespräch der beiden folgte. Er überlegte, ob er Rune vielleicht korrigieren sollte, aber vielleicht war es wirklich besser, wenn er weiterhin die Liga als einen wohltätigen Verein tarnte. Dass das nicht lange halten würde, war ihm dabei nur zu gut bewusst, aber zuerst wollte er hier überhaupt erst einen Stand aufbauen, bevor er ihn ruinierte.
Richard gab ein unwillkürliches Seufzen von sich und war in der Retrospektive jetzt doch ganz froh, dass das Thema Heirat so schnell wieder vom Tisch gewesen war, bevor ihn irgendjemand noch etwas direktes gefragt hätte wie etwa: Wann denkst du sollte man heiraten oder hast du schon einen Ring und wenn nicht, wie denkst du sollte der aussehen? Wenn es nach Rune ging wahrscheinlich aus geflochtenen Weidenzweigen, aber das konnte er sowas von vergessen, wobei... vergoldete Zweige wären schon ein ganz besonderer Ring, aber irgendwie noch zu normal oder? In der Sache würden sie sich wahrscheinlich noch ziemlich streiten, das wusste Richard jetzt schon und warf einen flüchtigen Seitenblick zu Rune. Er brauchte kein Metall, aber wollte er es auch nicht? Richard hatte sich nur mit schwerem Herzen von seinem Traum von der kleinen Familie mit Haus trennen können, aber das war Rune ihm wert gewesen. Dass es sich aber mittlerweile häufte, was er für ihn aufgab oder änderte, fiel dem Weißhaarigen erst jetzt auf. Und dass das Konto von Rune dagegen eher mager aussah. Oder ging es hier überhaupt nicht um einen Ausgleich in dem Sinne, sondern darum, dass Richard sich von Dingen befreite, die er gar nicht brauchte? Aber was war so falsch an diesen Dingen, die er wollte und mochte? Ja, er wollte ein Leben mit Rune und er wollte wenn möglich diesen Rune zum Vorschein bringen, der tief in ihm schlummerte, aber warum fühlte er sich dann weniger begeistert, wenn er daran dachte, was das noch für Konsequenzen haben könnte. Vielleicht sogar ein wenig ängstlich, weil er langsam merkte, dass er sich für Rune immer mehr veränderte und das eigentlich genau das war, was man nicht tun sollte. Er versank zunehmend in diesen Gedanken, während sie langsam Richtung Stadt gingen.

Rune witterte das etwas nicht in Ordnung war als er Richard seufzen hörte. Das war kein glückliches Seufzen, das kannte er. Sorgenvoll runzelte er die Stirn. Allerdings musste er sich auch mit Jespers Frage auseinander setzen.
Nachdenklich schweifte sein Blick über die Gärten der Nachbarn in denen sich schon Holzberge für den bevorstehenden Feiertagen häuften. Es war das Mitsommerwochenende und heute Abend würden zahlreiche Lagerfeuer leuchten. Es war einer der wenigen Feiertage die er mit seiner Familie gerne zelebriert hatte. Was für eine glückliche Fügung des Schicksals das ihr Ausflug gerade auf dieses Wochenende gefallen war. Fast als würde sich alles zusammen fügen.
Ein Seitenblick reichte jedoch um zu erkennen das Richard kein Auge für die Umgebung hatte. Er schien über irgendetwas nachzudenken. Rune nutzte die Gelegenheit als Jesper die ältere Frau Anderson ansprach und norwegische Worte eilig über seine Zunge flossen als er aufgeregt von seinem Tag berichtete. Rune wusste das Frau Anderson im letzten Jahr öfters auf Jesper aufgepasst hatte, schließlich konnte er das nicht mehr tun seitdem er in Cadysa war. Für einen kurzen, schmerzhaften Moment fühlte der Cyborg sich tatsächlich ersetzt. Dann rief er sich aber in Erinnerung das seine Beziehung zu seinem kleinen Bruder trotzdem etwas besonderes war und die freundliche alte Frau das nicht ersetzen könnte.
Außerdem hatte er jetzt die Gelegenheit kurz alleine mit Richard zu sprechen. Ein paar Meter abseits von Frau Andersons weißen Gartentor blieb er stehen. Irgendetwas brannte ihm doch auf der Seele, das konnte Rune spüren. „Was ist los, Måneskin?“ Sorge die fast ein bisschen bang wirkte sprach aus seinem Blick der Richard über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg musterte und färbte seine Sprache die nun noch deutlicher von seinem Akzent geprägt war. Eigentlich hatte er das Gefühl gehabt das dieser Ausflug bisher ganz gut verlief. Ein bisschen chaotisch und seltsam vielleicht, aber nur so kannte er es von seiner Familie. Jesper war offensichtlich begeistert von seinem Lebensgefährten und auch sein Vater schien ihn zu akzeptieren. Was war also los?

Sie passierten einige Häuser und Richards Blick schweifte nachdenklich über die hübschen Gärten. Im Vergleich zu Cadysa wirkte es hier wirklich ländlich, aber sehr idyllisch. Nach einer Weile hielten sie an, weil der kleine Jesper sich mit einer älteren Frau auf Norwegisch unterhalten wollte. Richard verfolgte neugierig alles mit, auch wenn er kaum ein Wort verstand. Trotzdem hatte er immer nur ein paar Fetzen von Rune gehört und die Sprache nun in direkter Anwendung zu hören war doch ein merklicher Unterschied. Es erinnerte ihn abermals daran, dass er diese Sprache einfach nur wunderschön fand. Während er weiter zuhörte senkte sich sein Blick wieder etwas nachdenklich und als Rune ihn ansprach, schreckte er fast ein bisschen zusammen.
"Was?", fragte Richard erst verdutzt und schaute Rune an, der ihn recht besorgt anblickte.
Dann erst kam Runes Frage in seinem Kopf an und nach Ausflüchten suchend huschte sein Blick kurz zur Seite.
"Ähm...", begann er und hob dann den Blick wieder, um etwas verlegen zu lächeln, "Entschuldige, ich war einfach in Gedanken versunken, keine Sorge."
Jetzt mit allem heraus zu platzen war wirklich keine gute Option, immerhin musste er erstmal selbst über diese Gedanken nachdenken, bevor er sie ungefiltert Rune präsentierte. Vielleicht würde er es ihm heute abend sagen, wenn sie wieder unter sich waren, aber im Moment war es besser es geheim zu halten. In dem rohen Zustand würde Rune sich nur verwirren lassen von seinen Zweifeln und dieser Tag wäre endgültig verdorben. Vielleicht half es das zu machen, was er schon vorhin bei Oystein gemacht hatte. Nicht lügen, aber auch nicht so ganz ehrlich sein.
"Ich habe mich gefragt, was Oystein bei deinem Bruder gemacht hat. Oder ist er von Natur aus so... klug?", sinnierte Richard halblaut und blickte dabei hinüber zu Jesper, der sich noch mit der alten Frau unterhielt.

Mit seiner Aufforderung sich keine Sorgen zu machen erreichte Richard nur das Gegenteil und es schlich sich das unangenehme Gefühl an das er etwas verheimlichte. Oder war er einfach nur paranoid? Richard wusste doch das Rune seine Sorgen mit ihm teilen wollte, oder? Hatte er einen Grund sich zu verschließen? Sein Lächeln war nicht ehrlich, das sah Rune sofort. War wirklich nur Jespers Geisteszustand der Anlass?
Trotzdem seufzte Rune und beschloss Richard von Jespers Schicksal zu berichten. Denn von Natur aus war er bestimmt nicht so klug. „Nein, überhaupt nicht. Jesper ist eigentlich geistig stark beeinträchtigt. Down Syndrom. Er hat einen Computer im Kopf auf dessen Datenbank er mit seinen Gedanken zugreifen kann. Natürlich hat er keine Verbindung zum Internet, mein Vater wollte die Möglichkeit uns zu...hacken so weit es ging eliminieren. Die Daten sind manuell eingespeichert, allerdings kommen seit einigen Jahren keine neuen Einträge hinzu. Stattdessen hat mein Vater seinen Erinnerungsspeicher ausgebaut, damit er auf Erklärungen die er gehört hat zurück greifen kann. Er hat ein Übersetzungsprogramm dem er nachspricht wenn er englisch redet und verschiedene Rechenprogramme. Er kann innerhalb von Sekunden komplizierte Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellen.“ Rune lachte freudlos und bitter auf. „Ziemlich viel für den Verstand eines Kindes, das hat mein Vater inzwischen auch gemerkt. Er ist eben ein Theoretiker der wenig Ahnung von Psychologie hatte. Jesper war ein bahnbrechendes Projekt und noch viel mehr Aufsehen erregt als ich. Deswegen hat mein Vater das gemacht. Weil die Gelder bei mir zu knapp waren. Ich hatte in den ersten Jahren kaum einen Gleichgewichtssinn weil er beim Material sparen musste. Dank Jesper wurden ihm genügend Mittel für uns beide zur Verfügung gestellt. Der Preis dafür war ihm im Forscherwahn wahrscheinlich überhaupt nicht bewusst. Dieses ganze Wissen verwirrt Jesper häufig, aber er hat zu seinem Glück einen unheimlichen Durchhaltewillen und ein wahnsinnig positives Gemüt.“ Er rang sich ein Lächeln ab und erwiderte Frau Andersons Winken das sie freundlich in ihre Richtung schickte nachdem Jesper aufgeregt gestikulierend in ihre Richtung gezeigt hatte. Dann wandte er sich wieder an Richard und versteckte seine wahren Gefühle nicht mehr. „Irgendwann kam er auf die dämliche Idee sich ausgerechnet an mir zu orientieren, deswegen versuche ich ihm ein gutes Vorbild zu sein. Dabei bewundere ich ihn eigentlich dafür wie er mit dem Ganzen umgeht. Er hat seine Fröhlichkeit nie verloren. Wenn er aus dem wochenlangen Koma nach einer Operation aufgewacht ist war meistens seine erste Reaktion mir über die Wange zu streicheln um mich zu trösten weil er fand das ich so traurig aussah.“ Jetzt konnte Rune wieder wirklich lächeln. Diese Momente waren von einer so großen Erleichterung geprägt nachdem Rune ewig an seinem Bett ausgeharrt, sich darüber Sorgen gemacht hatte wie sein Bruder sich wohl fühlen würde er wenn aufwachte und sich gefragt hatte ob er noch der Junge war den er kannte.

Richard reagierte instinktiv, als ihm zugewunken wurde und winkte zurück, während er weiterhin Runes Worten lauschte. Sein Blick ging nachdenklich zur Seite und schließlich etwas mitleidig zu Rune, als der endete. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, er kannte solche Situationen überhaupt nicht, wollte aber irgendwie etwas tröstendes sagen. Schließlich schwieg er doch und wandte sich lieber wieder zu Jesper, der total aus dem Häuschen zu sein schien vor Freude.
Langsam schlich sich ein liebevolles Lächeln auf Richards Lippen.
"Wahrscheinlich hat er sich dich als Vorbild ausgewählt, weil ihr innerlich beide stark seid. Ich denke auch, dass das alles ihn niemals so betrübt machen könnte, wie ihr ihn glücklich macht. Vielleicht klingt das anmaßend, wenn ich das sage, aber ich glaube er versteht, wie viel Glück er hat.", meinte Richard und sein Lächeln wurde noch ein klein wenig breiter, bevor er wieder zu Rune blickte.

Rune errötete und entwickeltes mit einem Mal ein reges Interesse an seinen Füßen als Richard mutmaßte das Jesper ihn wegen seiner inneren Stärke als Vorbild ausgewählt hatte. Eigentlich war er der Meinung das er im Inneren nicht halb so stark war wie Jesper und tat deswegen sein Möglichstes um ihm eine Stütze zu sein die die Last mit ihm trug.
Er hob den Blick erst wieder als Richard betonte das Jesper Glück hatte bei zwei komischen Vögeln  wie ihm und seinem Vater gelandet zu sein. „Jesper brauchte vor allem eine verständnisvolle Familie und keinen Computer. Vielleicht hatte er tatsächlich Glück. Wer adoptiert schon ein Kind mit Down Syndrom? Er war erst ein paar Tage alt als er in einer Altpapiertonne gefunden wurde. Er wurde einfach entsorgt, wie ein alter Pappkarton.“ Mit schmerzerfüllten, fassungslosen Augen schüttelte Rune den Kopf. „Er war drei Monate alt als er zu uns kam, ich war dreizehn. Mein Vater und ich haben einen regelrechten Konkurrenzkampf entwickelt wer ihm zuerst das Laufen beibringt. Jesper war so ehrgeizig beim Üben, egal wie oft er hingefallen ist. Als er zwei Jahre alt war haben wir es geschafft bevor mein Vater eine Möglichkeit entwickelt hatte ihm den Bewegungsprozess einzuprogrammieren.“ Rune grinste, das war eine Erinnerung die er verdammt gern hatte. Er erinnerte sich an Jespers aufgeregtes Quietschen als er in seine Arme getaumelt war und Øysteins besiegtes Klatschen mit dem er seine Niederlage anerkannte.
„Mein Vater hat schon Recht damit das unsere Familie wirklich alles andere als perfekt ist, aber ich kann mich nicht beschweren eine unglückliche Kindheit gehabt zu haben. Das war auch Jespers Glück, nicht die Technik in seinem Kopf sondern jemand der sich um ihn kümmert. Aber ohne diese Technik wäre er nie zu uns gekommen. Konventionelle Wege sind eben kein Erfolgsgarant.“  Der Cyborg zuckte mit den Schultern. Vielleicht war der Grund das er nie große, konkrete Pläne machte. Damit lief er Gefahr eine plötzliche, glückliche Fügung im Leben zu verpassen.
„Jeder der mir etwas bedeutet ist durch ein Unglück in mein Leben gekommen.“ ,stellte er nachdenklich aber frei von Kummer fest. Er lächelte sogar belustigt in Richards Richtung als er diesen Zusammenhang erkannte. „Das erste Mal an ich an meiner eigenen Nabelschnur erstickt bin, dann weil jemand einen Säugling wie Altpapier behandelt hat und schließlich weil mir jemand fast das Gehirn zerschossen hätte. Verrückt wie das Leben sich manchmal zusammen fügt.“

Richard glotzte Rune fassungslos an, als dieser von Jespers Anfängen berichtete. Er schluckte hart und schaute dann wieder zu dem fröhlichen Jungen ein paar Meter vor sich. Und er dachte er hätte ein beschissenes Leben gehabt? Rune erzählte weiter und kam schließlich zu der Erkenntnis, dass irgendwie jeder, der ihm etwas bedeutete durch eine Art Unglück in sein Leben getreten war. So Recht er damit auch hatte Richard konnte ihn dabei nicht genauso anlächeln, wie er ihn.
"Wahrscheinlich sogar noch mehr Unglücke...", murmelte der Weißhaarige eher an sich selbst gewandt, während er überlegte, dass sie jetzt nicht hier stehen würden, wenn so mancher anderer Mist nicht passiert wäre.
Schließlich seufzte der Weißhaarige und strich sich in einer resignierenden Geste durchs Haar.
"Irgendwie verrückt, aber scheinbar hatten wir alle doch irgendwie Glück.", meinte Richard und zuckte denn mit den Schultern, bevor er sich wieder zu Rune wandte und Richtung Straße nickte, "Wollen wir?"

Richard hatte Recht und Rune konnte seinen Worten nur beipflichten. Sie hatten alle auf ihre Art Glück gehabt und er war froh wie alles am Ende gekommen war. Das hatte jedes Leid, jedes Ärgernis für ihn wieder wett gemacht.
Allerdings passte der Ausdruck in den eisblauen Augen überhaupt nicht zu dem Gesagten. Er sprach davon Glück gehabt zu und lächelte dabei nicht einmal. Runes Verdacht das etwas in Busch war erhärtete sich. Sollte er etwas sagen? Er wollte einfach nicht das Richard sich mit irgendeinem trüben Gedanken alleine herum schlug. Er sah es fast als seine Pflicht an die Aufforderung zum Aufbruch zu ignorieren und zumindest nachzufragen.
„Du siehst aber nicht glücklich aus!“ Wenn ihm diese ganze Situation zu viel war wollte Rune das wissen, er wollte ihm nichts aufdrängen das ihn innerlich zum Brodeln brachte. Wenn irgendeine Aussage falsch rüber gekommen war wollte er das korrigieren. Er wollte das Richards Sorgen auch seine waren.

Richards leichtes Lächeln verschwand wieder, als Rune ihn plötzlich darauf hinwies, dass er eigentlich gar nicht glücklich aussah. Der Ausdruck in Runes Augen verriet ihm, dass er sich Gedanken um ihn machte, fast so, als hätte er einen Verdacht geschöpft und wollte nun subtil darauf hinweisen, dass er doch mit ihm reden sollte. Nette Geste, dachte sich Richard, aber das war im Moment einfach keine Option. Würde er jetzt mit allem auspacken wäre es nicht nur chaotisch und vielleicht verletzend, sondern Jesper würde es sofort mitkriegen. Er wollte diesen Tag nicht ruinieren, aber jede Option, die er im Kopf hatte schien negative Folgen zu haben. Schließlich gab Richard mit einem Seufzen nach.
"Lass uns einfach einen schönen Tag haben und nicht über die Zukunft oder Vergangenheit nachdenken, okay? Am besten wir denken einfach nicht mehr über das ganze nach und genießen unsere Zeit hier.", schlug Richard vor und versuchte zu lächeln, während er seinen Griff um Runes Hand etwas verstärkte.

Die Erkenntnis das offensichtlich etwas nicht in Ordnung war und das Richard einfach mit ihm darüber reden wollte traf Rune hart. Seine Worten machten es nur noch schlimmer. Er fragte sich jetzt nicht mehr ob etwas im Busch war, denn das wusste er und die Antwort gefiel ihm überhaupt nicht. Er fühlte sich hilflos und dann sollte er sich keine Gedanken machen? Sie sollten nicht mehr darüber nachdenken, aber Rune hatte keine Ahnung worum es überhaupt ging. Sein einziger Hinweis war das es etwas mit der Zukunft oder der Vergangenheit zu hatte. Großartig! Und da sollte er sich nicht den Kopf zerbrechen? Das hieß es könnte so ziemlich alles sein! Das es ein empfindliches Thema war mehr als offensichtlich und machte Rune nur noch unruhiger. Ging es um Tiril? Oder das was Jesper angesprochen hatte? Er war auf dem besten Weg wahnsinnig zu werden!
„Richard!“ ,zischte Rune ernst und senkte seine Stimme noch mehr. „Wie soll ich mir einen schönen Tag machen wenn ich weiß das du dir wegen irgendetwas den Kopf zerbrichst? Es scheint ja irgendetwas mit mir zu tun zu haben, ansonsten würdest du nicht so ein Geheimnis daraus machen.“ Der Cyborg schluckte und hatte große Mühe damit seine strenge Mine aufrecht zu erhalten. Die Angst in seinem Blick war inzwischen nicht mehr zu übersehen. „Aber ganz abgesehen davon sind deine Sorgen meine Sorgen. Wenn es dir schlecht geht geht es mir auch schlecht. Also verrate mir jetzt bitte worüber ich mir überhaupt Sorgen mache.“

Rune seinerseits wollte kein Stück nachgaben. Im Gegenteil, er drängte Richard so sehr dazu es ihm zu sagen, dass er fast etwas überrascht war wie stur der Cyborg sein konnte. Hartnäckig war aber vielleicht eher das passendere Wort. Machte er sich wirklich so viele Sorgen, wegen seiner Gedankenversunkenheit, aber es war doch nichts!
"Es ist nichts besonderes.", zischte Richard zurück und grummelte dann, "Ich will das nur nicht vor dem Kleinen machen und außerdem weiß ich selbst noch nicht so wirklich, ob es überhaupt ein Grund zur Sorge ist, weil es echt... es ist nicht so wichtig. Ich habe nur überlegt, was sich noch so alles ändern wird... Das heißt aber nicht sofort etwas negatives, nur weil ich darüber nachdenke."
Grummelnd blickte Richard zur Seite und seufzte dann.
"Ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll. Mach dir keine Sorgen, es gibt wirklich keinen Grund dafür.", fügte er an, lehnte sich dann zu Rune hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe.

Super, das es eine Sorge war wurde ihn jetzt auch noch bestätigt. Umso näher Rune an die Antwort kam und banger schlug sein Herz. Richards Verschlossenheit machte ihm Angst. Allerdings erhielt er endlich einen Hinweis darauf worum es überhaupt ging. Er machte sich Gedanken darum was sich noch alles ändern würde. Nun gut, was das anging gab es viel zum Nachdenken, schließlich blieben Veränderungen nicht aus wenn man jemanden so nah an sein Leben ließ. So wie Richard es ausdrückte klang es aber beunruhigend, auch wenn er extra betonte das es nichts negatives sein musste. So wie die Karten jetzt gerade lagen fühlte es sich allerdings ziemlich negativ an. Er wollte Richard vertrauen das es wirklich kein Grund zur Sorge gab, aber dieses Gespräch erinnerte Rune auf unangenehme Weise an einen anderen Punkt in seinem Leben. Genauso so wage hatte er nämlich um das Thema herum getanzt wenn Tiril ihn nach seinen Gefühlen gefragt hatte. Er hatte die Wahrheit versucht zu schönen damit er sie nicht verletzte musste. Er wollte nicht denken das Richard gerade das gleiche mit ihm tat.
Der Cyborg versuchte diese finsteren Gedanken auszuatmen als Richard ihn mit einem Kuss versichern wollte das wirklich alles in Ordnung war. Dabei merkte er das sein Atem leicht zitterte. „Es ändert sich vor allem das du dich nicht mehr alleine mit deinen Problemen herum schlagen musst....“ ,murmelte Rune. „Wenn du es zulässt!“ Aber er wusste sich wohl damit abfinden das Richard diese eventuelle Sorge für sich behalten wollte. Es fühlte sich an als ob er ihn ausschließen würde. Als würde er die Tür vor seiner Nase zuschlagen obwohl er ihn in den Arm nehmen wollte. Aber das musste er akzeptieren.
Ein Verdacht erhärtete sich jedoch so sehr das er ihn nicht verschweigen konnte. Ein Verdacht der erklärte warum das Thema gerade jetzt aufkam. Richard lernte gerade seine Familie kennen, ein Meilenstein in einer Beziehung und dann setzte sein Bruder auch noch viel Elan daran ihre Beziehung für immer zu besiegeln. „Geht es dir zu schnell mit uns?“ Bang erwiderte Rune Richards Händedruck. Er wusste nicht wie Beziehungen normalerweise geführt wurden, aber er hatte bisher auch nicht angenommen das das Wissen um die Spielregeln nötig sein würde. Schließlich war jede Beziehung anders. Er mochte das Tempo mit dem diese voran schritt. Vielleicht waren es für Richard zu viele Veränderungen in zu kurzer Zeit. Rune ließ betrübt den Kopf hängen. Er wollte ihm vielleicht helfen, aber wenn Richard mehr Zeit brauchte sollte er ihm diesen Freiraum lassen und die Dinge langsamer angehen. Auch wenn Rune es nicht gefiel nach einem Protokoll zu arbeiten. Schließlich zählten vor allem Richards Bedürfnisse.

Wie Richard gedacht hatte war auch diese Option damit geendet, dass Rune sich Sorgen machte. Sein Gesichtsausdruck verriet deutlich, dass obendrein auch noch Angst dazu kam. Richard hätte am liebsten laut geseufzt und es ihm brühwarm serviert, aber er war sich ja nicht mal selbst sicher, ob das alles stimmte was er sich da zusammen reimte. Betrübt senkte er den Blick und überlegte , wie er es ihm am besten schonend beibringen konnte ohne totalen Blödsinn zu reden. Als dann jedoch Rune vorsichtig nachfragte, ob es ihm vielleicht zu schnell ging, hob Richard seinen Blick sofort wieder und schaute Rune mit großen Augen an.
"Was? Nein, ich...", begann er und senkte dann beschämt den Blick, "Ich... ich denke schon viel weiter, deswegen ist es definitiv nicht zu schnell, aber... naja es hat sich schon viel verändert und es wird sich noch mehr verändern und das ist wie gesagt per se nichts schlimmes, aber... vielleicht irre ich mich auch, aber es fühlt sich so an, als würde ich mich verändern... für dich und ich habe mich gefragt, naja... ob das so sein soll. Ich hab keine Ahnung von Beziehungen, aber ich will nicht mich zu wem machen, der ich nicht bin und vielleicht.... verdammt, wie erkläre ich das? Sagen wir einfach es war schon verdammt schwer für mich zuzugeben, dass ich dich liebe. Du weißt, was Liebe angeht ist mir die Geschlechterfrage egal, aber ich für mich war und oder bin es immer noch, hetero und über diese Linie zu springen, bedeutete für mich mein Bild von mir stark zu überdenken. Ich war das einfach, naja und plötzlich nicht mehr, wegen dir und ich habe es nicht bereut, weil ich dich liebe, aber damit ist es noch nicht getan. Es ist nicht nur meine Sexualität, die plötzlich nicht mehr sicher oder anders ist, mein ganzes Leben krempelt sich gerade um. Ich bin mit einem Mann zusammen und auch wenn mir Ansehen nicht so wichtig ist, sie werden mir einen Stempel geben und ich darf mich rechtfertigen. Und sowas wie Familie, das ist auch passé, als würde sich langsam alles auflösen, was ich bin und wollte und ... wie gesagt, das heißt nicht zwangsläufig, dass es schlecht ist, aber... es hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und da werde ich nachdenklich. Ich liebe dich, aber ich glaube du verstehst das nicht so wirklich, du kannst weitermachen, wie bisher, während ich... förmlich den Halt verliere."
Jetzt seufzte er wirklich hörbar und fluchte leise. So klang es ja fast wie eine Anklage, verdammt. Dabei wollte er Rune doch nur klarmachen, auch welch wackligen Beinen er wegen all dem stand und dass er darüber nachdenken musste, um vielleicht wieder Balance zu finden.

Runes Augen wurden immer größer als ein riesiger Informationsfluss auf ihn einprasselte. Einige dieser Informationen schwächten seine Angst, andere entfachten sie wieder. Am Ende versuchte er das Ganze zu sortieren und wünschte sich zum ersten Mal Jespers Gehirn damit er das Gehörte Revue passieren lassen konnte.
„Richard...“ ,flüsterte er erschrocken. Das er so viele Zweifel hatte traf ihn wie ein harter Schlag in die Magengegend. Eine Information stach aber im Besonderen heraus. „Ich habe nie verlangt das du dich verändern musst. Ich liebe dich so wie ich dich kennen gelernt habe. Ich will nicht das du jemand anderes bist.“ Das hatte Richard zwar nicht impliziert, aber es machte einen großen Unterschied der Rune sehr wichtig war. Er hatte nie versucht ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken, all das war auf freiwilliger Basis passiert. Eine Beziehung machte wenig Sinn wenn man sich verändern musste um den Partner zu gefallen, ja. Aber das wollte Rune nicht. Unweigerliche Veränderungen hingegen empfand er nach einem so einschneidenden Erlebnis als völlig normal. Veränderungen konnten auch Entwicklung bedeuten.
„Glaub bloß nicht das ich nicht weiß wie du dich gerade fühlst. Denkst du ich wusste immer Bescheid? Ich war ein Jahr lang mit einem Mädchen zusammen von dem ich wirklich dachte das ich sie liebe. Ich war selbst in dieser Situation. Mit dem großen Unterschied das der Mann in dem ich mich verliebt habe dabei war seine Hochzeit zu planen und ich in der Zeit die einzige Person mit der ich darüber reden könnte verloren habe. Du kannst mit mir darüber reden. Ich kenne diese Zweifel und es hat Jahre gedauert bis ich akzeptiert habe dass das nichts daran ändert wer ich bin. Das ist ein kleiner Aspekt von den vielen Sachen die mich ausmachen und hat keinerlei Auswirkungen auf die Anderen. Es gibt Idioten die das nicht akzeptieren ja, aber davor ist man in dieser Gesellschaft nun einmal nicht sicher. Doch du gehst diesen Weg nicht alleine.“ Entschlossen trat Rune vor Richard, legte seine Hände auf seine Wange und lenkte seinen Blick auf sich. „Wenn du Halt brauchst lass mich doch zumindest versuchen deiner zu sein.“ Sein Blick und seine Worten waren vielleicht zielgerichtet, weil er auch wirklich mit vollster Überzeugung dahinter stand. Den Punkt den ihn am meisten verletzt hatte traute er sich allerdings nicht anzusprechen. Wieso glaubte Richard das sie nie eine Familie haben würden? Es gab inzwischen so viele Möglichkeiten für Paare in ihrer Situation gemeinsam Kinder groß zu ziehen. Aber er konnte Richard schlecht sagen das er sich bereits am Tag an dem sie zusammen gekommen waren vorgestellt hatte wie er mit ihm und ihren zukünftigen Kindern frühstückte.
Fieberhaft überlegte Rune wie das Thema unverfänglich aussprechen könnte. Vor wenigen Atemzügen war er noch voller Selbstbewusstsein gewesen, jetzt wich Rune dem Augenkontakt den er gerade eben noch selbst erzwungen hatte aus. Mit einem Mal glühten seine Wangen. Jetzt musste er über seinen Schatten springen, so wie Richard es für ihn getan hatte. „Muss...muss ich mir Gedanken machen weil du mich nicht als Option zur Familiengründung siehst?“

Runes Antwort war zuerst etwas verhalten und als Richard es kurz wagte den Blick zu heben, sah er schiere Angst in Runes Augen. Er versicherte ihm, dass er ihn so liebte wie er war und dass er sich gar nicht verändern musste. Wirklich überzeugt war Richard zu Anfang jedoch nicht besonders davon. Als Rune dann jedoch davon sprach, dass er ihn sehr wohl verstand und wieso, hob Richard erschrocken den Blick. Wieso erzählte er ihm das erst jetzt? Richard wurde etwas wütend, aber Runes weitere Sätze ließen eher Tränen in seinen Augen aufsteigen. Beschämt senkte er den Blick und suchte nach Worten der Entschuldigung, aber als Rune ihm abermals versicherte, dass er ihn stützen würde, verließ ihn seine Stimme. Er legte seine Hände an Runes Oberarme und lehnte seine Stirn gegen die von Rune, während sich ein paar Tränen aus seinen Augen stahlen, die er sofort weg wischte. Als Rune dann auch noch den Punkt Familie ansprach, fand Richard seine Entschlossenheit ziemlich schnell wieder. Mit tränennassen Augen hob er den Blick und sah Rune etwas ängstlich und besorgt an.
"Rune... ich... es tut mir leid, ich habe schon so lange allein gekämpft und war so oft der Außenseiter. Mich auf andere verlassen war da nie eine Option und geglaubt hat auch kaum jemand an mich. Ich wollte aber immer sowas wie das hier, ich wollte Liebe und Familie und ich denke nicht, dass du kein guter Familienteil wärst, aber. .. wir können nie Kinder haben und ... ich wollte immer eigene Kinder."
Jetzt senkte Richard seinen Blick wieder.
"Entschuldige, vergiss das, ist nicht so wichtig. Ich. .. lass uns ein anderes mal darüber reden, wenn ich da nochmal drüber nachgedacht habe.", fügte er murmelnd hinzu.