Lillehammer, Norwegen [Gegenwart]

„Ich behaupte das könnte er locker ausgleichen. Der Junge fühlt doch schon alleine mehr als das ein gefüllter Saal bei einer Shakespeare-Auffuehrung. Hätte ich sein Gehirn nicht mit eigenen Augen gesehen würde ich vermuten der er das limbische System eines Pottwals hat.“ ,stellte Øystein belustigt fest. Rune war schon immer ein sehr emotionaler Mensch gewesen, auch wenn er versuchte das in den letzten Jahren zu verstecken konnte er seinen Vater nicht täuschen. Es war für den Pragmatiker nicht immer einfach nachzuvollziehen gewesen, aber er beobachtete das mit dem wissenschaftlichen Interesse eines Forschers. Außerdem war er dadurch so herrlich einfach aus der Fassung zu bringen.
So ganz durchschaut hatte er Richard allerdings auch noch nicht. Er kam ihm wesentlich gefasster vor als sein Sohn, dennoch verriet die verstärkte Durchblutung seiner Wangen das gerade mehr in im Vorging. Wie interessant, das sollte er näher beobachten.
Das Rune sich geweigert hatte seinen Arm zu zeigen wunderte ihn hingegen überhaupt nicht. „Rune fällt nicht gerne auf. Ich denke er hat Angst davor auf seine Prothesen reduziert zu werden. Die Resonanz der Gesellschaft war selten positiv. In Cadysa mag das anders sein, aber du musst bedenken das die meisten Leute sich erschrecken wenn er seine Vermummung ablegt. Außerdem hat er ein schlechtes Gewissen wegen dem Stromverbrauch. Trotzdem...ich denke er würde die Alternative nicht wollen. Schließlich hat er jederzeit die Möglichkeit seine Modifikationen nicht mehr mit Strom zu versorgen.
Ich hoffe die Gesellschaft wird sich aufgrund der jüngsten globalen Veränderungen an ungewöhnliche Anblicke gewöhnen. Vielleicht fällt ein Cyborg irgendwann überhaupt nicht mehr auf. Aber im Moment gehört er noch einer sehr seltenen Art an. Wie ich schon sagte, er ist ziemlich emotional. Das macht den Konflikt nicht leichter. Das ist das Los der Pioniere. Er wird diesen Konflikt aber noch mit sich ausmachen, da bin ich mir sicher. Immerhin mangelt es ihn nicht an Intelligenz. Er hat dir garantiert nie erzählt das er ein musikalischer Autodidakt ist. Diese Intelligenz würde sich sicher auch in anderen Bereichen bemerkbar machen wenn er sich nicht immer von seinen Emotionen überrennen lassen würde.
Aber ich bin mir sicher das er im Fall eines Gutachtens die Wichtigkeit dahinter sehen und sich nicht zieren würde, auch wenn es ihm unangenehm ist.
Willst du deswegen nicht das er davon erfährt?“

Richard hörte Oysteins Worten aufmerksam zu und musste leicht lachen, als er meinte, dass Rune so emotional war, dass er vermutet hatte, er hätte das limbische System eines Pottwals. Vor allem war das witzig, weil es Rune sicher gefallen würde mit einem Wal verglichen zu werden. Das waren auch die Tiere, die sie damals am Meer beobachtet hatten, als ihre Gefühle noch winzig keimende Samen gewesen waren, empfindlich und jung. Als Oystein meinte, dass Rune intelligent sei und sogar obendrein ein musikalischer Autodidakt weiteten sich Richards Augen vor Erstaunen.
"Ich wusste ja, dass er sehr musikalisch ist, aber das hör ich zum ersten mal.", gab er zu und nickte beeindruckt.
Als Oystein Runes Kooperation zwecks eines Gutachtens ansprach und dann Richard direkt fragte, ob er deswegen nicht wollte, dass Rune so früh davon erfuhr, wanderte der Blick des Weißhaarigen für einen Moment nachdenklich zur Seite, bevor er verlegen lächelnd sich am Hals kratzte.
"Unter anderem, vor allem aber aus dem eben genannten Grund. Rune ist noch emotionaler als ich und deswegen muss das ganze gut vorbereitet sein, bevor ich mit ihm darüber auch nur rede. Ich glaube für sowas reichen ein paar Tage...", meinte Richard und fügte dann noch murmelnd hinzu, "...für die Vorbereitung eines Antrags bräuchte es sicher Wochen."

Natürlich hatte Rune nichts von seiner musikalischen Begabung erzählt. Der Junge war noch nie gut darin gewesen sich zu verkaufen. Er nutzte diese Begabung ja nicht einmal richtig. Øystein hingegen sah in jedem nicht verwendeten Potential eine Verschwendung. Aber auch hier musste er er sich darauf verlassen das er seinen Weg schon finden würde. Das war inzwischen alles was er sich für seine beiden Söhne wünschten.
Der neusten Erweiterung ihres kleinen Kreises waren inzwischen deutliche emotionale Regungen anzusehen. Auf einmal wirkte der Broker überhaupt nicht mehr so geschäftsmäßig. Øystein hob interessiert eine Augenbraue. Plante er etwa Rune das Ganze als Überraschung zu präsentieren?
Und von was für einem Antrag redete er da? Wochen der Vorbereitung schienen ihm in bürokratischer Hinsicht für ein Schreiben doch ein wenig übertrieben. Aber gut, das war schließlich nicht sein Fachgebiet.
Doch sobald er darüber nachdachte was es sich vielleicht um nichts geschäftliches handelte traf ihn die Erkenntnis sofort ins Gesicht und er tat taktvollerweise so als hätte er nichts gehört. Als einzige Reaktion bildeten seine Lippen die Worte „Oxytocin-Rausch“, begleitet von einem belustigten Lächeln. Kein Träumer also, so so...das galt offenbar nicht für alle Bereiche. Øystein dämmerte das er die Wette die er mit Jesper am Laufen hatte möglicherweise verlieren könnte. Dabei war er mit seinen geschätzten zwei Jahren ziemlich optimistisch gewesen, doch Jesper hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen das zu unterbieten.
Er hoffte nur das Richard sein Urteilsvermögen nicht von irgendwelchen romantischen Gefühlen trüben ließ. Aber in dem Fall hätte er es in der Geschäftswelt sicher nicht so weit gebracht. Øystein beschloss es einfach auf sich zukommen zu lassen und sein wachsames Auge offen zu halten um im Notfall zu intervenieren. Er würde dem ganzen Plan gerne eine Chance geben, schließlich arbeitete er genau darauf seit seiner weit entfernten Jugend hin.
„Von mir erfährt er nichts, mach dir keine Sorgen. Abgesehen davon hört er mir sowieso nie zu.“ Ein weiteres Mal betonte Øystein das er durchaus stolz war wie schlecht sein Sohn erzogen war. Ein eigener Kopf war ihm immer viel wichtiger gewesen als blinde Manieren.
Der Wissenschaftler stieß sich von dem Türrahmen ab um in die Küche zurück zu kehren. Er hatte den Verdacht das Richard schon längst bei jemand anderes sein wollte und er musste seine Höflichkeit nicht mehr ausnutzen. Er hatte schließlich alle Informationen die er brauchte um festzustellen er Rune in guten Händen wissen konnte. Zuvor wandte er sich jedoch über die Schulter noch einmal Richard zu. „Du hast gute Ideen und einen lobenswerten Ehrgeiz. Lass dir da nicht von einem zynischen, alten Mann, der mit den Jahren viel zu vorsichtig geworden ist, reinreden. Ich hebe meine Euphorie nur auf bis ich am Ziel angelangt bin.
Erst einmal freue ich mich lieber darüber das Rune jemanden gefunden hat der ihm ziemlich gut tun könnte.“ Plötzlich starteten Øysteins Mundwinkel wieder einen belustigten Höhenflug während er in einer dramatischen Geste die Hände in die Luft warf. „Gudskjelov, bist du kein Öko-Aktivist. Mir reicht einer davon in der Familie!"

Richard konnte nicht umhin abermals leicht zu lachen, als Oystein erwähnte, dass Rune ihm wahrscheinlich sowieso nicht zuhören würde. So war ihm das auch vorkommen während den Gesprächen im Wagen. Wobei nicht zuhören nicht ganz traf, eher nur das hören, was er wollte vielleicht. Auf jeden Fall waren die zwei sich nicht ganz grün bei vielen Dingen, trotzdem immer noch eine liebe Familie. Richard folgte dem alten Herrn in die Küche, wo der doch nochmal stehen blieb, um sich an den Weißhaarigen zu wenden.
Zuerst wusste Richard gar nicht, was er auf dieses große Lob hin sagen sollte und schaute Oystein im ersten Moment nur überrascht mit großen Augen an. Als der Wissenschaftler dann noch regelrecht jubelte, dass Richard nicht noch so ein Umweltfreak war, wich die Überraschung und Richard musste wieder lachen.
"Wahrscheinlich sogar weniger als Rune denkt.", gab Richard zu und lächelte verlegen, "Aber ich mache durchaus gerne das eine oder andere für ihn. Am ersten Tag waren es meine Blumen. Ich habe daheim viele Vasen mit Lilien und so weiter gehabt. Ich mag etwas Leben in meinen Räumen, aber Rune war eher der gegenteiligen Meinung. Für ihn schien das so zu sein, als würde ich Skelette ausstellen. Deswegen habe ich sie dann durch Kunstblumen ersetzen lassen. Und letzte Woche waren es dann auch noch meine Topfpflanzen auf dem Balkon. Mein Gärtner hat zweimal nachgefragt, ob ich es ernst meinen würde, dass ich gerne Pflanzen hätte, die man nicht so oft trimmen musste. Er hat es aber mit Humor genommen, als ich meinte, dass das der Wunsch von meinem Partner wäre."
Nun lachte Richard wieder und seufzte dann mit einem Kopfschütteln.
"Ich schaue schon auf meinen Fußabdruck, aber der Junge übertreibt es manchmal schon ein bisschen.", fügte er lachend hinzu.

Øystein stimmte in Richards Lachen mit ein als er hörte was der Broker einem Hippie zu Liebe alles tat. Er selbst verdrehte meistens die Augen über Runes Anwandlungen, aber aus der Sicht eines Vaters freute ihn das natürlich für seinen Sohn. „Ungewöhnlicher Liebesbeweis.“ ,schmunzelte er. Wobei das nicht negativ gemeint war. Im Gegenteil. Triviale Liebesbekundungen waren ihn schon immer ziemlich nutzlos vorgekommen. Mit seiner ehemaligen Verlobten war er deswegen oft aneinander geraten, deswegen gefiel ihm die Vermutung das die Beiden ihren ganz eigenen Weg hatten damit umzugehen.
„Manchmal bekommt man den Eindruck das es Rune genauso schmerzt eine Schnittblume zu sehen wie wenn man ihn in sein eigenes Fleisch schneidet. Er hat schon einige Mal eine Totenwacht mit Kerzen für einen gefällten Baum gehalten. Teenager eben, kommen auf die verrücktesten Ideen.“ Ob andere Väter sich wohl auch mit solchen Dingen herum schlagen musste? Øystein hätte auf alle Fälle nie tauschen wollen, dafür machte er sich sich zu gerne über Runes Engagement lustig.
„Schön zu hören das er sich nicht vor dir verstellt. Wenn ich meine Beobachtungen richtig deute ist das nicht selbstverständlich bei der ersten Liebe.“ Er hatte keinerlei schlechtes Gewissen Tiril bei Runes vergangenen Beziehungen in Klammern zu setzen. Selbst er hatte deutlich erkannt dass das ein seltsames Experiment gewesen war und keine Liebe.
Mit einem Grinsen gab er dieser neuen Konstellation seinen Segen. „Jetzt hau' schon ab, wir beide wissen das du eigentlich lieber woanders sein willst.“

Richard brach in schallendes Gelächter aus, als Oystein von einer Totenwache für einen gefällten Baum erzählte. Sofort schlug er sich die Hände vor den Mund, als er sich daran erinnerte, dass zwei im Haus ja schon schliefen. Sein Lachen tat deswegen keinen Abbruch, auch wenn es jetzt deutlich leiser war. Es verstummte erst, als Oystein auf die erste Liebe zu sprechen kam. Erst dachte Richard wie selbstverständlich, dass er Runes erste Liebe gewesen wäre, doch in der darauf folgenden Sekunde fiel ihm schmerzhaft wieder die Sache mit diesem Mädchen ein. Stimmt, da war ja was gewesen.
"Ja, verstellen muss er sich nicht.", antwortete Richard etwas nachdenklich.
Einen kurzen Moment herrschte Stille bis Oystein ihn schließlich regelrecht davon jagte. Mit einem leichten Lachen verließ er dann die Küche und machte sich dann auf den Weg zu Jespers Zimmer, um Rune zu wecken.