2. Zelt: Raziel, Sandar, Shinon, Takeo

Ein gutes Zeichen war, dass eine mehr oder weniger höfliche Begrüßung über Shinons Lippen kam. Guten Morgen. Obwohl der Morgen wahrscheinlich nicht für alle Beteiligten so gut war. Für Shinon nicht, weil er wahrscheinlich einen Kater hatte. Für mich nicht, weil ich dabei gewesen war, als der andere Halbdämon getrunken hatte. Na, wenn so ein guter Tag anfing, dann wollte ich keine schlechten erleben! Und aus irgendeinem Grund hatte sich der Junge noch immer nicht bewegt, nachdem ich vom Duschen wiederkam. Und kurz darauf stellte sich heraus, dass er auf mich wartete... Also, ich ging davon aus, dass er mich meinte. “Wenn ich mich mit ‚irgendetwas’ identifizieren muss, kann ich es wohl.“, erwiderte ich schmunzelt. Shinon schien tatsächlich Humor zu haben. Aber wenn man ganz genau war, musste ich mich gar nicht mit... irgendetwas identifizieren. Ich durfte. Und tat es dann wohl auch. Zwar hatte ich keine Ahnung, warum Shinon auf mich wartete, aber er tat es doch. Er wartete auf mich... Trotz wahrscheinlich peinlicher Erinnerungen an den Abend zuvor. Das war wohl ein erneutes gutes Zeichen. Vielleicht auch nicht, das kam ganz drauf an, was Shinon so geplant hatte. Obwohl Rache wohl in seine so strikten Regeln nicht hinein passte. Außerdem hatte ich ihm eigentlich auch nichts getan, warum hatte ich also trotzdem Schuldgefühle? Das war unlogisch... Vielleicht lag es an uns sterblichen Wesen. Wir hatten Gefühle, gute wie schlechte, und manchmal konnten wir sie nicht steuern, auch wenn sie zu uns gehörten. Und jetzt gerade hatten anscheinend meine Schuldgefühle beschlossen, dass sie dringend mal wieder einen Auftritt brauchten. Ich versuchte, sie in den Hintergrund zu drängen. “Und wie kommt es, dass du ausgerechnet auf mich wartest?“, wagte ich zu fragen, tat es aber auch, weil ich eigentlich wenig Lust dazu hatte, Shinon um Entschuldigung für nichts anzuflehen. Allerdings schien der Blauhaarige ebenso wenig Lust auf dieses Thema zurückzukommen, wie ich, und so erklärte er mir lieber, dass er noch nicht frühstücken war. Sehr schön, dann konnten wir ja essen gehen! Noch bevor ich fragen konnte, antwortete Shinon bereits. “Ich bin fertig.“ Keine weiteren Hausfrauenarbeiten. Er konnte wirklich gut alles Geschehene überspielen. Naja, er hatte auch Jahrhunderte lang Zeit gehabt, das zu perfektionieren. Shinon schlug die Zeltplane auf, und trat hinaus ins Licht. Das wenige Sonnenlicht, was sich bisher die Mühe gemacht hatte, die acht Minuten zur Erde zurückzulegen und uns hier auf der Erde Gesellschaft zu leisten, schimmerte leicht in Shinons perfekt sitzendem Haar. Diesmal gab ich mir nicht mal Mühe den Gedanken zu unterdrücken, dass er gut aussah. Mein Herz konnte ich leider nicht davon überzeugen, dass es aufhören sollte Bluthochdruck herauszufordern. Shinons Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Stumm folgte ich ihm.
Es kam mir noch gar nicht so lange vor, dass ich gegessen hatte, was vielleicht an dem etwas zu spät eingenommenem Abendessen lag, dem ich dennoch verdankte, dass es mir wahrscheinlich besser ging als Shinon. Dennoch, angeblich war das Frühstück ja die wichtigste Mahlzeit.

pp: Essplatz