Lichtung

Melialice verfolgte mit ihren grünen Augen den Flug des Schmetterlingschwarms bis sie plötzlich eine dunkle Gestalt aus den Augenwinkeln ausmachte. Sofort senkte sich ihr Blick wieder und sie ging in Verteidigungsposition mit ihrem Fächer in der Hand. Die Schmetterlinge zogen weiter ihre Kreise, jedoch bereit sich sofort auf den Gegner zu stürzen, sollte er Gefahr bedeuten. Doch zuerst musste Melialice den Fremden mustern und einschätzen, ob er ihr gefährlich werden würde.
Mit geweiteten Augen musterte sie das seltsame Wesen, das sich nun vor ihr aufrichtete, während es eine andere Form annahm. Es wurde immer menschlicher, auch wenn so einige Attribute wie die riesigen Hörner oder der Echsenschwanz deutlich dagegen sprachen. Auch die rot glühenden Augen und die Federn am Hals des langsam nach einem Mann aussehenden Wesens passten nicht so recht zusammen. Melialice schluckte und der Griff um ihren Fächer wurde stärker, doch dann erhob der Fremde seine Stimme und grüßte sie, ehe er sie fragte, ob sie sich verirrt hatte. Etwas perplex blinzelte Melialice und machte den Mund auf, um etwas zu entgegnen, blieb dann jedoch sprachlos, während sie noch einmal das Wesen vor sich musterte. Allmählich kam ihr ein Verdacht.
"G-Guten Abend. D-Darf ich dich fragen, wer du bist? Ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Bist du echt?", fragte Melialice vorsichtig und senkte ihren Fächer langsam.

Ben runzelte die Stirn für einen Moment. Er hatte viele Reaktionen erwartet, aber nicht unbedingt, dass das Mädchen ihn fragen würde, ob er denn echt sei. Für einen Moment starrte er sie verdutzt an, dann begann er, schallend zu lachen. Die Frage war wohl berechtigt, immerhin sah der alte Vampir schon lange nicht mehr glaubhaft aus.
Die Anspannung war mit dieser Frage definitiv gebrochen und als Ben wieder sprach, waren sowohl seine Haltung als auch seine Stimme deutlich entspannter und der Schwanz, der eben noch nervös von einer Seite zur anderen gezuckt war, hing jetzt locker runter: „Ja, ich bin echt. Mein Name ist Bendigeidfran und man könnte mich wohl den Hüter dieses Waldes nennen. Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir auch sagen, wer du bist?“ Er musterte das Mädchen mit einem amüsierten Lächeln.
Sie war kleiner als er und er hätte ihren Körperbau am ehesten als filigran bezeichnet. Die langen, glatten schwarzen Haare umrahmten ihr schmales Gesicht und ihre Haut war hell, aber nicht bleich und er konnte keine deutlichen Makel erkennen. Ihre Augen waren grün und der Ausdruck ihres Gesichtes zeigte, soweit der Vampir das einschätzen konnte, eine gewisse Intelligenz. Sie wirkte fast, als sei sie nicht von dieser Welt.
Und auch, wenn das vermutlich nicht stimmte, so konnte sich Ben nicht vorstellen, dass sein Gegenüber im Wald zu gut aufgehoben war. Wahrscheinlich konnte sie sich als Magierin zwar verteidigen, aber das hieß ja nicht, dass sie sich nicht verirren konnte; vor allem in einem Wald wie diesem.

Melialice' Frage brachte ihren Gegenüber dazu erst verwirrt die Stirn zu runzeln und dann schallend zu lachen. Nun war es Melialice, welche die Stirn runzelte und perplex dreinblinzelnd zu dem Wolpertinger-Wesen schaute. Sie war sich nicht ganz sicher, ob dieses Lachen echt war oder nur der Vorbote eines Angriffs. Offenbar ersteres, denn das Wesen lächelte weiterhin amüsiert und stellte sich dann sogar recht förmlich vor. Jetzt starrte Melialice aus Überraschung und nach einem kurzen Zögern begann sie auch erst sanft und dann verlegen zu lächeln.
"Oh, entschuldige. Du bist bestimmt hier, weil ich zu tief in den Wald gelaufen bin.", antwortete Melialice und ließ ihren Fächer verschwinden und mit ihm auch die Schmetterlinge und das Kleid, "Ich wollte wirklich nicht die Stille des Waldes stören, sondern sie eher genießen. Tut mir Leid, wenn ich jemandem Ärger bereitet habe. Ach ja, ich bin Melialice, aber alle nennen mich Alice."
Melialice versuchte nun ihr Lächeln aufzubessern, sodass es vielleicht als entschuldigendes Lächeln durchging, während sie sogar einen leichten Knicks andeutete, um sich auch sichtbar zu entschuldigen. Es war beim Hüter des Waldes nicht gut ihn zu verärgern und besser man stellte sich gut mit ihm, vor allem wenn man noch öfter einen zumindest kleinen Spaziergang in der Nähe des Waldes ohne größeren Schaden unternehmen wollte. Hoffentlich war der Hüter auch beim Vergeben so locker.

Noch immer machte der fast alltägliche Gebrauch von Magie, den dieses Mädchen zeigte, Ben ein bisschen nervös. Aber ihre Haltung und ihre Wortwahl ließen ihn vermuten, dass sie diese Magie – selbst sollte sie offensive Magie beherrschen – nicht einfach gegen ihn einsetzen würde und so sah er auch keinen Grund, sich auf einen Angriff vorzubereiten.
Der Name des Mädchens klang fremdartig, aber auch schön und auch, wenn sie zuvor ein bisschen angespannt gewirkt hatte, so erwiderte sie nun Bens Lächeln. Er antwortete mit ruhiger Stimme: „Keine Sorge, du hast keinen Ärger gemacht. Mein Sohn Alastair hat mich nur darauf hingewiesen, dass du etwas ziellos erschienst und ich wollte sichergehen, dass du dich nicht verlaufen hast. Das kann dir hier schneller passieren, als dir lieb ist.“ Der Ausdruck in Bens Augen wurde ein bisschen strenger, immerhin wollte er Melialice deutlich machen, dass das tatsächlich eine Gefahr war, wenn man sich in diesem Wald nicht allzu gut auskannte.
Den zweiten Grund verschwieg der Vampir fürs erste. Zwar machte er keinen Hehl daraus, dass er Leute, die im Wald ernsthaften Schaden anrichteten, bestrafte, aber in diesem Moment wäre diese Information sowohl unnötig, als auch kontraproduktiv gewesen. Melialice hatte nichts getan, das dahingehend seinen Zorn beschworen hätte und auch jetzt verhielt sie sich ja recht respektvoll.

Zum Glück schien der Hütes des Waldes nicht verärgert über ihren ungebetenen Besuch. Er hatte sogar Verständnis dafür, sollte sie sich wirklich verirrt haben. Etwas verlegen lächelte Melialice und kratzte sich am Hinterkopf.
"Ich wollte eigentlich nur den Wald erforschen. Mir ist schon aufgefallen, dass er sich nicht gerne offenbart, aber ich habe das eher als Herausforderung gesehen. Ich bin eigentlich einem Weg hierher gefolgt, aber plötzlich war er weg.", gab Melialice zu und wandte ihren Kopf kurz um, um vielleicht doch noch den Weg zu finden, "Ich könnte zwar meine Schmetterlinge bitten mich zu führen, aber wenn du mir den Weg zurück zeigen würdest, wäre ich dir sehr dankbar. Ich verspreche auch das nächste Mal nicht mehr so tief in den Wald zu gehen, wenn ich euch damit störe."
Das Wandern wollte sie auf gar keinen Fall ganz aufgeben, aber sie konnte sich damit abfinden vielleicht nur kurze Wege durch den Wald zu gehen und niemals tiefer. Sie hatte kein Interesse daran die Bewohner des Waldes und erst Recht nicht den Hüter des Waldes zu stören. Vielleicht hatte sie heute einfach Pech gehabt und war zufällig genau dem Weg gefolgt, der sie ins Herz des Waldes befördert hatte, wo die Mächte des Waldes verborgen lebten. Da war sie schon ziemlich erleichtert, dass der Hüter des Waldes es ihr nicht übel nahm, dass sie hierher gekommen war. Trotzdem war ihr Eindringen sicher nicht sehr angenehm für ihn, nahm Melialice an.

Ben runzelte die Stirn kaum merklich. Er persönlich hatte noch nie bemerkt, dass der Wald sich schlagartig änderte. Aber vielleicht lag das auch daran, dass er in Cadysa aufgewachsen war und sich von Kindestagen daran gewöhnt hatte. Oder vielleicht hatte das Mädchen auch keinen besonders guten Orientierungssinn; auch das war durchaus möglich.
Ben hatte schon Leute gesehen, die sich mit einer Karte oder sogar einem neumodischen Navigationsgerät verirrt hatten, einfach, weil sie keinen funktionierenden Orientierungssinn besaßen. Aber ganz so wollte der alte Vampir es dann doch nicht formulieren. Und sie wieder an den Waldrand zu führen war nicht zu viel verlangt, immerhin war er in diesem Wald seit fast 650 Jahren zuhause.
„Du störst nicht unbedingt, so lang du keinen Müll rumliegen lässt und kein Feuer entfachst. Meine Sorge ist eher, dass du dich so tief im Wald verirrst, dass du nicht mehr rausfindest und dich vielleicht auch noch verletzt. Du scheinst mir eigentlich ein ganz nettes Mädchen zu sein und ich würde dich nur ungern verletzt oder tot hier auffinden,“ erklärte der altre Vampir mit ruhiger Stimme während er das Mädchen an den Rand der Lichtung führte. Er wählte einen leichteren Weg, sich durchaus darüber bewusst, dass Melialice vermutlich nicht so an das Laufen im Wald und das Klettern durchs Unterholz gewöhnt war.
Im Unterholz sah er die bernsteingelben Augen seines ältesten Sohnes aufblitzen, der ihn und Melialice wohl beobachtet hatte. Bendigeidfran nickte ruhig in Alastairs Richtung um ihm zu signalisieren, dass er die Situation unter Kontrolle hatte. Daraufhin verschwand das Blitzen und Ben vermutete, dass Alastair sich wieder seinen Pflichten widmete.