Im Herzen des Waldes

Langsam wagte der Bestatter sich doch ihr übers Fell zu streicheln. Am Anfang hatte sie die vorsichtige Art des Kerls fast schon geärgert, doch so langsam musste sie einsehen, dass sie sicher nicht jetzt hier sitzen und über den Wald hinweg schauen würden, wenn er anders gewesen wäre. Lily hasste es mit Samthandschuhen angefasst zu werden, aber es war wohl die einzige Möglichkeit, um nicht ihren Unmut zu wecken. Es war allgemein schwierig sich ihr zu nähern und nicht zuletzt deswegen war Lily lieber alleine.
Allerdings... es fühlte sich so wunderschön an friedlich gestreichelt und hinter den Ohren gekrault zu werden. Lily ließ die Streicheleinheiten bereitwillig über sich ergehen und legte den Kopf sogar etwas nach hinten, um die Finger des Bestatters zu der Stelle hinter ihren Ohren zu befördern. Ihr Kopf wandte sich leicht zur Seite, als der Bestatter meinte, dass sie ruhig wieder zu ihm kommen sollte, wenn sie etwas brauchte. Er bot ihr sogar an ihr etwas hierher zu bringen und fragte sie zugleich, ob sie hier wohnte. Lily überlegte kurz, beschloss dann aber besser nicht in die Richtung ihres echten Zuhauses zu zeigen. Am Ende würde der Bestatter sonst noch denken, dass sie irgendjemandem gehörte. Da blieb sie lieber der wilde Wolf in seinen Augen. Also gab sie ein kurzes Bellen zur Bestätigung von sich und legte sich dann demonstrativ hin, um zu verdeutlichen, dass sie manchmal hier oben lag.

Die Wölfin genoss seine Streicheleinheiten sichtlich. Sicherlich hätte sie lieber ein paar Artgenossen gehabt die ihr das Fell putzten. Aber da dazu scheinbar keiner bereit war, versuchte Pavel so gut es ging Ersatz zu leisten. Er zuckte nicht mehr zusammen als sie bellte. Es klang freundlich. Offenbar war er gerade wirklich ein Gast in ihrem Zuhause.
„Du hast dir einen sehr sschönen Platz ausgesucht.” ,stellte Pavel unter einem zaghaften Lächeln fest.
„Mein Zuhause ist auch ssehr schön. Es ist wärmer als hier und in der Sstadt laufen wilde Mufflons herum. Sie haben unss oft besucht.” Mit viel Freude dachte Pavel an die Wildschafe zurück die oft ihre freundlichen Nasen gegen die Fensterscheibe gedrückt hatten, während er den Umgang mit Formaldehyd übte. Manchmal hatten sie eine geschlagene halbe Stunde auf die Möhre gewartet die Pavel ihnen überreichte nachdem er seine Arbeit erledigt hatte. „Es gibt auch viele alte Gebäude, ganzz bunte! Und immer genügend Perssonal, weil dort niemand, zehn Sstunden nachdem sein Herztod festgesstellt wurde, wieder aufssteht.” Pavel stockte aprubt. Das Lächeln fiel ihm aus dem Gesicht. Natürlich war es ärgerlich das kaum jemand in einer Stadt mit Zombiebefall Bestatter werden wollte. Wegen dem akuten Personalmangel musste er oft die Arbeit von drei Personen leisten, damit sein Betrieb weiterhin seine Aufgabe erfüllen konnte. Aber er wollte nicht undankbar wirken. Das Institut war ein Geschenk seiner Eltern, sie hatten viel investiert und er sollte froh sein so eine Chance bekommen zu haben. Ondrej würde er den Betrieb ihrer Eltern erben, er hatte seinen eigenen, Anezka und Ester gingen leer aus. Er hatte keinerlei Recht sich zu beklagen. „Ich...ich meine, Cadysssa isst natürlich auch ssehr ssschön...” Ihm fiel nur auf die Schnelle nichts ein, was er als Beispiel nennen konnte.

Der Bestatter lobte die Auswahl von Lilys Wohnort und fügte hinzu, dass er auch ein schönes Haus besaß. Lily hätte am liebsten etwas hämisch aufgelacht. Er wusste ja nicht, dass sie daheim in einem halben Palast wohnte, auch wenn ihr eigenes Zimmer nicht so prunkvoll war. Überrascht wandte sie den Kopf zum Bestatter um, als dieser von wilden Mufflons erzählte. Meinte er das etwa ernst? Offenbar schon, denn er lachte dabei nicht so, als hätte er einen Witz gemacht.
Überfragte legte Lily den Kopf schief, als ihr Gegenüber begann von irgendwelchen Gebäuden zu erzählen. Offenbar merkte er selbst, dass er da nicht ganz astreines Zeug redete, denn im nächsten Moment verschwand sein Lächeln abrupt. Allerdings sprach sein Gesichtsausdruck nicht gerade davon, dass er sein wirres Gerede einsah, sondern eher dass er etwas bereute. Oder war er etwa wegen irgendetwas traurig? Er wirkte zumindest so und als er wieder seine Stimme erhob, um zusammen zu fassen, dass Cadysa schön war, zischelte er wieder so sehr, dass Lily zum ersten Mal der krasse Unterschied auffiel. Es war also keine natürliche Reaktion, sondern eher wie das nervöse Lispeln eines Menschen. Eben erst hatte er noch fast ohne zu zischeln gesprochen und jetzt zog er jedes einzelne S unfassbar in die Länge.
Allerdings wusste Lily auch nicht, was sie jetzt tun konnte, um den Bestatter etwas aufzuheitern. Sie selbst hasste es unfassbar sich von Trauer gehen zu lassen und vor allem sich den Tag vermiesen zu lassen. Viel lieber regte sie sich darüber auf, dass sie traurig war und suchte sich dann eine Beschäftigung. Das löste das Problem nicht, aber es lenkte sie genügend ab. Aber ihre leicht aggressive Ader hatte nicht gerade positive Effekte auf den Bestatter, das wusste sie spätestens seit vorhin, als sie sich in seinem Hosenbein verbissen hatte. Auf der anderen Seite wollte Lily ihn jetzt auch nicht gerade abschlecken bis er wieder lächelte, das war dann doch etwas zu kuschelig. Vielleicht half ja etwas zwischendrin. Nach diesem kurzen Moment des Überlegens sprang Lily auf, stellte sich auf die Hinterläufe und legte ihre Vorderläufe auf die Schultern des Bestatters. Anschließend verlagerte sie ihr Gewicht nach vorne bis sie ihn nach hinten auf den Rücken befördert hatte und sich über ihm aufbaute.

Es gab Situationen im Leben in denen es am besten war wenn man einfach kooperierte. Der Moment indem man von einem wilden Wolf zu Boden gedrückt wurde war einer davon. Also wandte Pavel die beste Verteidigungsstrategie an die er kannte; er hoffte darauf das er irgendwie die Situation unbeschadet überstand. Mit großen, verwirrten blickte er die Wölfin an. Zwei perfekte runde Tennisbälle. Seine geschlitzten Pupillen weiteten sich leicht. „Wir...wir müsssen nicht reden. Ich sschaue mir auch gerne einfach nur den Wald mit dir an.” ,versicherte er hektisch. Er schämte sich dafür das er nicht daran gedacht hatte, dass es sicherlich sehr langweilig war für sie nur einseitige Gespräche zu führen. Bestimmt hätte sie einiges zu erzählen. Ihre Augen sahen so intelligent aus. Aber sie verfügte nicht über die richtigen Stimmbänder um mit ihm zu kommunizieren. Eine Konversation brauchte nicht immer Worte, also sollte er aufhören sie übermäßig zu gebrauchen. Pavel hatte schon viele erstaunliche Gespräche mit Eichhörnchen geführt. Mehr als Blicke waren manchmal überhaupt nicht nötig. Deswegen probierte Pavel sich an einem Lächeln. Die kräftigen Pranken auf seinen Schultern versuchte er dabei vergeblich zu ignorieren.
Kaum hatte er es geschafft seine Mundwinkel ein paar Sekunden oben zu behalten, ließ ein monotones Surren ihn zusammen zucken. Es kam aus seiner Hosentasche. Er wusste was das bedeutete. Eine Nachricht aus dem Krankenhaus. Jemand hatte seinen Kampf verloren. Die Nachricht enthielt stehts nur drei Inhalte: Todeszeitpunkt, Körpergewicht und Aufenthaltsort. Die Geschichte erfuhr er immer erst dort.
„Tut...tut mir leid. Ich mussss jemanden abholen.” Sein Bedauern musste er nicht spielen. Gast bei einem Wolf zu sein war eine Ehre die sicherlich nur wenige Menschen erhielten. Gerne hätte er noch ein wenig den Ausblick genossen. Aus dem Wald, dem lebendigsten Ort den er sich vorstellen konnte, heraus zu kommen um für die Toten einer asphaltierten Stadt zu sorgen war immer ein harter Übergang. Aber es war seine Pflicht. Der Tod nahm keine Rücksicht auf Termine. Wenn er seine Sense schwang musste die Welt sich fügen. Doch zumindest nahm er sich hin und wieder die Zeit sich mit ihm auf eine Tasse Tee zu treffen.

Dieser kleine Überfall hatte den Bestatter schon wieder extrem stark in die Defensive gedrängt und ließ ihn glauben Lily hätte etwas dagegen mit ihm zu reden. Etwas enttäuscht, aber auch zerknirscht weil ihre Kommunikation nicht so funktionierte wie gewollt, ließ Lily wieder von ihm ab und setzte sich zu seinen Füßen hin. Er versuchte beschwichtigend zu lächeln, doch Lily konnte immer noch seinen Angstschweiß riechen. Nachdenklich senkte sie den Blick und überlegte, was sie nun tun sollte.
Zu einer wirklichen Lösung kam sie allerdings nicht, denn plötzlich summte das Handy des Bestatters und seine Aufmerksamkeit entzog sich ihr vollkommen. Nachdem er einen Blick auf sein Handy geworfen hatte, wandte er sich Lily wieder zu, die ihn erwartungsvoll anschaute. Offenbar Kundschaft, trotzdem konnte Lily eine gewisse Enttäuschung nicht leugnen, auch wenn er sich bei ihr entschuldigte. Mit Enttäuschungen umgehen war Lily aber nicht fremd. Wortlos erhob sie sich und trottete zum Rand des Felsens, um langsam herunter zu klettern bzw. rutschen. Sie würde dem Bestatter zumindest noch den Weg bis zum Waldrand zeigen, dann wäre sie wieder alleine. Das war okay, aber trotzdem... Irgendwie war es mit dem kautzigen Kerl interessanter gewesen, auch wenn sie nicht viel miteinander redeten.

Etwas in dem Gang, in dem die Wölfin zur Felskante trottete gefiel Pavel nicht. Er war nicht so federnd wie zuvor. Zuerst hatte er Angst das sich ihre verletzte Schulter ihr wieder Probleme bereitete, doch dann kam ihm urplötzlich ein anderer Gedanke.
War sie etwa traurig, weil er gehen musste? Betreten blickte Pavel auf seine verdreckten Lackschuhe. Sie hatte ihn hierher gebracht. An ihren besonderen Ort. Sie hatte ihm diese atemberaubende Aussicht gezeigt. Hatte er sich dafür überhaupt schon bedankt?
Erschrocken zuckte seine Zunge über seine Lippen und hielt sich dort so hartnäckig wie sein schlechtes Gewissen. Das war sehr unhöflich von ihm gewesen! Ondrej hatte ihm immer gesagt das alle Menschen zu behandeln sollte, wie er selbst behandelt werden wollte, selbst wenn sie es nicht taten. Aber die Wölfin war nett. Er mochte sie. Und er vergaß seine Dankbarkeit dafür auszusprechen!
Schnell schloss er zu der Wölfin auf. Aus den Augenwinkeln sah er den Abgang, der ihn nervös schlucken ließ. Aber das hier konnte nicht noch länger warten. Also kratzte er seinen spärlichen Mut zusammen und traute sich an den Abstieg, in der Hoffnung das die Wölfin Mitleid mit seinen kläglichen Versuchen haben und einen Moment inne halten würde.
„D-danke dasss du micch hierher gebraccht hassst. Ess war ssehr sschön.” Er wagte sich an ein zweites Lächeln. Seine Eltern hatten ihnen geraten auf diese sparsam zu dosieren. Ein Lächeln konnte schnell fehlinterpretiert werden, besonders wenn es in den Mundwinkeln eine Reihe scharfer Haifischzähne offenbarte. „Wenn...wenn du dasss mal wieder macchen möchtesst, kannsst du gerne zu mir kommen. Du mussst dann vielleicht nur etwass warten wenn ich einen Kunden habe.”