Im Herzen des Waldes

Verwundert beobachtete Pavel die Wölfin beim Graben. Es wirkte fast so als würde sie seine Handlung imitieren. Verstand sie die Bedeutung dahinter? Konnte ein Waldtier wissen das die Asche einmal ein Mensch gewesen war? Viele Tiere haben Trauerrituale. Elefanten hielten Totenwachen und besuchten auch nach Jahren noch den Ort an dem sie ein Familienmitglied verabschiedet hatten. Er hatte sogar einmal gelesen dass das Heulen der Wölfe besonders melancholisch klang wenn sie jemanden aus ihren Reihen verloren hatten.
„Jeder verdient einen würdevollen Abscchied.“ Traurig blickte er auf die provisorische Grabstätte herunter. „Jedess Wesen hat mindesstenss einmal in sseinem Leben jemanden glücklichh gemachht und verdient es deswegen nach seinem Ableben mit Resspekt behandelt zu werden.“ Selbst den Mörder, der seinen Beruf in regelmäßigen Abständen zu einem Albtraum machte, würde er nicht auf einer Müllhalde entsorgen. Pavel selbst war ein einfacher Geist, wie seine Schwester Anezka es immer wieder betont hatte wenn er sich wieder einmal schwer damit getan hatte dem Schulstoff zu folgen. Wenn selbst er das verstand war es doch wirklich kein Wunder das eine Wölfin die Wichtigkeit eines solchen Rituals nachvollziehen konnte. Aber hatte sie überhaupt ein Rudel? Sie war immer alleine wenn sie sich ihre Futterration abholte.
„Du bisst zziemlichh einssam, oder? Liegt dasss an deiner Fellfarbe?“ Vielleicht kam sie auch überhaupt nicht aus dieser Region und fand deswegen keinen Anschluss. Ein Geschöpf das in normalerweise in einem engen Familienverbund lebte alleine zu sehen war genauso traurig wie Beerdigung ohne Trauernde.

Lily blinzelte etwas perplex, als der Bestatter plötzlich davon sprach, dass jedes Wesen irgendwann einmal jemanden glücklich gemacht hatte und deswegen einen würdevollen Abschied verdiente. Einen kurzen Moment überlegte Lily, dann schüttelte sie heftig den Kopf und blies dann die Luft durch ihre Schnauze, dass es klang, als würde sie verächtlich schnauben. Von wegen! Es gab Wesen mit Glück in ihrem Leben und es gab Wesen wie sie. Man konnte nicht sowas sagen, vor allem sagte man sowas nicht, wenn man schonmal in die Welt geblickt hatte. Die Menschen waren genauso Arschlöcher wie viele andere Wesen, davon waren selbst die Engel nicht ausgenommen. Lily mochte sie aber immer noch mehr als ihre eigene Art. Die hielt sich für sonst etwas und das nur weil...
Lily fletschte bedrohlich die Zähne, als der Bestatter genau das Problem ansprach, dass ihr so zu schaffen machte. Ja, sie wusste, wer und was sie war. Eine verdammte Enttäuschung, in jeglicher Hinsicht. Zumindest für die anderen. Sie selbst verstand nicht, was sie noch tun sollte, um dies nicht mehr zu sein, aber vielleicht konnte sie auch gar nichts tun außer einfach weiter zu machen. Irgendwann würden ihre Brüder heiraten und eigene Familien gründen und dann hätte sie ihre Ruhe. Oder? Wahrscheinlich war wohl eher, dass man sie an jemanden verheiraten würde und sie dann als die Frau im neuen Haus etwas mehr als nur ein Fußabstreifer war. Zumindest solange es ein halbwegs gutes Haus war. Lily konnte sich besseres vorstellen, als einfach an irgendeinen beknackten Artgenossen verheiratet zu werden, der sich dann anschickte statt ihrer Familie ihre Freiheit zu beschränken, aber da die Familie Lupin es sich nicht leisten konnte irgendeinen No-Name-Schwiegersohn zu bekommen, würde sie wohl zumindest in Luxus unglücklich sein. Vielleicht hatte sie auch Glück und dieser andere Aristokratensohn war es genauso satt nach der Pfeife der Alten zu tanzen wie sie. Auf besseres konnte Lily im Moment gar nicht hoffen. Trotzdem machte sie diese Vorstellung nicht gerade glücklich. Es hinterließ eher einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge und einen Stein in ihrem Magen.
Schnell verschwanden ihre Zähne wieder hinter ihren Lefzen und sie verließ ihren Platz, um am Bestatter vorbei zu ihrem Busch zu laufen und von dort aus ein kleines Stückchen weiter zu einem Baum, in dessen Rinde viele Striche geritzt worden waren, die absichtlich in Fünferpaaren angeordnet waren. So oft war sie schon hier gewesen und nicht selten verletzt und stark geschwächt. Ein Blick über die Schulter zum Bestatter verriet, wie ernst die Situation für sie war.
Lily wandte sich wieder ab und ging ein Stück weiter geradeaus. Nach einigen Metern blieb sie stehen und wandte sich wieder zum Bestatter um. Hoffentlich verstand er, dass er ihr wie zuvor folgen sollte.

Als Antwort auf seine Frage wurden Pavel ein paar blanke, gefletschte Zähne präsentiert. Gelähmt vor Schreck erstarrte das Feenkind. War das Thema so empfindlich? Er hatte hier keine Chance zu fliehen. Er war mitten im Terrain der Jägerin. Verband' sie das Thema mit so viel Schmerz das sie ihm gleich die Kehle raus reißen würde weil er es angesprochen hatte? Nun tat Pavel seine Frage furchtbar leid und das nicht nur weil er sehr an seinem Leben hing. Er hatte doch nur Mitgefühl zeigen wollen.
„Tut...tut mir l-leid. Dasss war eine taktlosse Frage.“ ,stammelte er hektisch. Wer antworte schon gerne auf so etwas? Doch zum Glück musste Pavel diesen Fehltritt nicht mit seinem Leben bezahlen. Denn die Wölfin zeigte ihm wieder etwas. Verwirrt kniff er die Augen zusammen. Ein Baum? Vorsichtig wagte er sich auf allen Vieren kriechend vorwärts, bis er erkannte was ihm gezeigt wurde. Der Baum war markiert. Die Striche waren sehr wolfsuntypisch in Fünfergruppen unterteilt. Stammten sie von ihr? War sie also in der Lage zu zählen? Ja, war die Mathematik möglicherweise sogar ursprünglich von Wölfen erfunden worden? Und vor allem; was hatte sie gezählt?
Sie forderte ihn erneut auf ihr zu folgen. Pavel rappelte sich ungelenk auf und rief sich immer wieder in Erinnerung das sie schon reichlich Gelegenheiten gehabt hätte sein Leben zu beenden, wenn das eine Option für sie wäre. Also folgte er ihn, trotz gut sichtbarer Bedenken. Schließlich wollte er auch nicht das sie sich weiterhin einsam fühlte.

Der Bestatter entschuldigte sich für seinen kleinen Fehltritt und krabbelte ihr dann hinterher durchs Gebüsch. Am Baum hielt er kurz inne und begutachtete ihre Zählung, ehe er ihr weiter folgte. Lily führte den Bestatter durch weiteres Gebüsch und hohes Unterholz. Der Wald wurde immer dichter, so dicht, dass die Bäume sich nicht mehr genug Licht ließen und alles von Moos besetzt worden war. Ab hier wuchs das Gebüsch nicht mehr so hoch, dafür war es mancherorts mit gefährlichen Dornen gespickt. Lily führte den Bestatter einen sehr schmalen Wildpfad durch die Dornen hindurch, geradewegs auf eine Art grüne Wand zu.
Erst als sie kurz davor waren, wurde erkenntlich, dass es sich bei der grünen Wand um einen von Moos dicht bewachsenen, großen Felsen handelte, der so groß und hoch war, dass er eine Art natürliche Sackgasse bildete. Lily blieb allerdings nicht stehen, sondern beschleunigte ihren Gang, um dann mit einem großen Satz auf einen Vorsprung des großen Felsens zu springen. Oben angekommen blieb sie stehen und wandte sich dann zum Bestatter um.

Das Gestrüpp wurde immer dichter und Pavel musste schließlich einsehen das er seinen Rucksack erst einmal zurück lassen musste wenn er weiterhin voran kommen wollte. Auch sein Sakko legte er dazu. Es war Teil seiner Arbeitskleidung und sollte lieber keine Schäden von den Dornen nehmen. Die feinen Kratzer auf seiner Wange würden heilen, Stoff war dabei nicht so verzeihlich. Seine Mutter hatte ihm immer wieder eingeschärft wie wichtig es war das seine Arbeitskleidung im tadellosen Zustand war. Menschen vertrauten jemanden mit einem gepflegten Anzug schneller.
Hemd und Hose konnte er allerdings nicht retten. Bald waren die feinen Stoffe von Rissen und dem Dreck des Waldes überzogen.
Als Pavel schließlich etwas anderes als Gestrüpp vor Augen hatte wurden seine Reptilienaugen groß. Eine Wand aus Moos tat sich vor ihnen auf. Die Überreste einer alten Tempelanlage? Ein Geheimversteck von Aliens? Oh...nein, offenbar nur ein Feld den seine fellige Mitstreiterin trotz verletzter Schulter mit scheinbarer Leichtigkeit bezwang. Dem schmächtigen Bestatter fiel das deutlich schwer. Mühsam versuchte er sich hoch zu hangeln. Moos und Stein boten aber leider keinen besonders guten Halt.

Der Bestatter schaute erst etwas verdutzt zu ihr hoch, doch dann wagte er tatsächlich den Aufstieg. Lily hätte es sich fast denken können. Natürlich kam der kleine, zierliche Bestatter kaum einen Meter hoch ohne gleich wieder abzurutschen. Nach einigen Sekunden des Versuchens, riss Lily der Geduldsfaden und sie kam soweit wie möglich nach vorne, um sich nach vorne unten zu beugen. Kurzerhand schnappte sie sich den Kragen des Bestatters und zog ihn daran auf den Vorsprung, auf dem sie stand. Dann hob sich ihr Blick zum nächsten Vorsprung diagonal über ihnen, ehe er wieder nun etwas fragend zum Bestatter ging.
So funktionierte das nicht. Sie kam mit ein wenig Mühe bis ganz nach oben, aber der Bestatter schaffte ja nicht einmal die erste Etappe, wie sollten sie dann bis ganz nach oben kommen? Einen Moment lang hielt die Wölfin inne und überlegte, was sie tun konnte, um den Aufstieg zu erleichtern. Viel fiel ihr da allerdings nicht ein. Sie konnte ihn ja schlecht auf ihr reiten lassen, oder? Lily musterte den kleinen Bestatter von oben bis unten. Wie schwer er wohl sein würde, überlegte sie und ihre Augen wurden schmal. Sie konnte es sehr schwer sagen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Also drehte sie ihm ihre Flanke zu und zeigte mit dem Kopf an, dass auf ihren Rücken klettern sollte. Der war ein klein wenig höher als seine Schrittlänge, also könnte es vielleicht wirklich funktionieren.

Pavel musste nur wenige Male scheitern, bis sich die Wölfin der Sache annahm. Er versuchte nicht daran zu denken, dass ein paar Reißzähne sich gerade beängstigend nah an seinem Hals befanden. Vor Nervosität bearbeitete er seine Unterlippe mit seinem eigenem Haifischgebiss. Zahnreiche Schnittenwunden, die dabei über die Jahre immer wieder aufgetaucht waren, hatten diese Art der Stressbewältigung immer nur für ein paar Wochen eingeschränkt.
Er war ziemlich froh, als er wieder festen Boden unter seinen Knien spürte. Das war also geschafft. Was sie ihm wohl hier oben zeigen wollte? Oh...eine weitere Wand. Der Bestatter schluckte und trug ihm Geist bereits sein Hemd zu Grabe. Der Aufstieg war noch nicht vorbei.
Unmissverständlich machte die Wölfin ihm klar das sie nicht vorhatte ihm den ganzen Weg nach oben zu ziehen. "Wil...willst du...?" Er sollte auf ihren Rücken klettern. Dort wo es kaum ein Entkommen gab. Dort wo er der übermütigen Jägerin ausgeliefert war. Doch was immer sie bezwecken wollte schien ihr wichtig zu sein. War er möglicherweise sogar der Erste, der es gewagt hatte mitzukommen. Also kehrte Pavel ein weiteres Mal sein kleines Häufchen Mut zusammen und griff in das weiße Fell um sich hochzuziehen. Jedes Mal wenn er stärker zog, als beabsichtigt zischte er eine Entschuldigung. So war sein Weg nach oben von einer beinahe pausenlosen Kette aus Entschuldigungen begleitet.

Natürlich zögerte der sowieso noch nie selbstsicher gewesene Bestatter, als sie ihm anbot auf ihren Rücken zu steigen. Dabei blickte er sie immer noch mit diesem Blick an, als müsse er fürchten gleich von ihr angefallen zu werden. Mittlerweile waren sie doch keine Fremden mehr und trotzdem fürchtete er sich immer noch in gewisser Weise vor ihr. Bis jetzt hatte sie es noch verstanden und darüber hinweg gesehen, doch so langsam fand sie es albern. Aber zum Glück überwand der Bestatter schließlich seine Angst und kletterte tatsächlich auf ihren Rücken.
Er war zwar etwas schwerer, als angenommen, immerhin war er eine ziemlich dürre Erscheinung, aber das war alles noch verkraftbar. Es gab schlimmeres und zwar eine ganze Menge. Lily musste nur etwas ihren Rücken durchdrücken, um den Bestatter möglichst nahe an ihren Nacken zu manövrieren, damit er beim folgenden Sprung nicht von ihrem Rücken rutschte. Sie kam nur mit Mühe auf den nächsten Vorsprung, aber nur, weil sie das zusätzliche Gewicht nicht mitberechnet hatte. Oben ging es noch steiler aufwärts, aber nach dem zweiten dritten Sprung hatte sie den Dreh einigermaßen heraus.
Trotzdem war sie froh, als sie endlich ganz oben angekommen waren und in Baumkronenhöhe über den Wald hinweg bis zur Stadt sehen konnten, deren Zinnen in dem Moment von der aufgehenden Sonne in goldenes Licht getaucht wurden. Es würde zwar noch etwas dauern bis der Nebel gänzlich verschwunden war, aber das störte Lily gar nicht. Sie mochte es sogar zuzusehen, wie der morgendliche Nebel eine Weile lang gegen die mächtige Morgensonne bestand, ehe er von ihr verflüchtigt wurde. Das schöne daran war vor allem der Anblick und das vor allem von hier aus, von wo man über alles hinweg blicken konnte und dabei von völliger Ruhe umgeben war. Das einzige, was man so langsam lauter werden hörte, war der morgendliche Gesang der Vögel des Waldes, der völlig anders zu klingen schien wie der Ruf der Vögel in der Stadt.

Pavel bemühte sich sein Gewicht gleichmäßig zu verlagern damit er den Rücken der Wölfin nicht allzu sehr beanspruchte. Er vermied es die Finger in ihr Fell zu krallen und suchte stattdessen Halt mit seinen dürren Schenkeln um möglichst keine Belastung darzustellen. Zumindest bis zu dem Moment an dem die Wölfin anfing sich zu bewegen. Von diesen Zeitpunkt an waren seine Arme fest um den Hals der Jägerin geschlungen. Mit zusammen gekniffenen Augen hielt er sich mit allem fest was er hatte. Die Angst von dem Felsen zu stürzen war um einiges größer als die Angst vor dem Tier.
Erst als er merkte das sie standen wagte er es wieder sich zu rühren. Leblos wie seine Kunden rutschte er von der Wölfin herunter und nahm sich ein paar Sekunden um sich von dem Trip zu akklimatisieren. Hier oben war es windiger als im Wald, das spürte er sofort. Er öffnete die Augen.
„Wow...“ ,hauchte er ehrfürchtig. Vor ihm offenbarte sich der Wald, die Stadt, der See und in der Ferne sogar das Meer als ein großes harmonisches Bild. Allesamt Orte die er kannte und zumindest zum größten Teil sehr mochte. Er konnte den Weg erahnen den er immer nahm um den Wildtierpark zu besuchen. Solange er denken konnte fühlte er sich im Wald sicherer als in der Stadt. Der Wald war friedlich und voller Leben. Jeder Bestatter brauchte regelmäßig Augenblicke die nicht vom Tod geprägt waren. Das hier waren Pavels.
„Da habe ichhh neulichh einen Waschhbären getroffen!“ ,erzählte er aufgeregt und wies auf die, in seichten Nebel gehüllte, Oberfläche des Sees. Normalerweise waren Waschbären nicht in Wales heimisch, er musste durch das Portal hierher gelangt sein. Pavel hatte ihm sein Sandwich überlassen nachdem er eine geschlagene Minute mit seinen großen Augen die Pfoten danach ausgesteckt hatte.

Wie ein nasser Sack rutschte der Bestatter von Lilys Rücken, als sie oben angekommen waren. Einen kurzen Moment widmete Lily dem Bestatter einen leicht besorgten Blick, doch als dieser sich kurz darauf erhob und merkte, an welchen atemberaubenden Ort Lily ihn gebracht hatte, schwand diese Sorge schnell wieder und sie ließ ihren Blick wieder über die schöne Szenerie wandern.
Nach einer Weile erhob der Bestatter wieder seine Stimme und erzählte aufgeregt, dass er einen Waschbären getroffen hätte, während er hinüber zum See zeigte. Lily warf ihm einen kurzen ungläubigen Blick zu. Waschbären in Wales? Davon hatte sie ja noch nie gehört. Wobei von Drachen und so weiter hatte sie ihr auch nicht gehört und trotzdem waren sie hier. Mittlerweile konnte man hier in Cadysa wohl überhaupt nichts mehr als typisch bezeichnen. Sie selbst gehörte da genauso dazu wie der Bestatter, der offensichtlich auf kein menschlicher Waliser war. Was das anging zählten sie wohl beide zum neuen Cadysa. Wobei Lily es immer noch vorzog in ihrer wahren Gestalt herum zu laufen, während viele, wahrscheinlich auch der Bestatter, lieber eine Tarnung oder einen Mittelweg bevorzugten. Im Grunde war es Lily egal, was andere mit ihrem Leben machten, aber so langsam fragte sie sich doch, was der Bestatter nun eigentlich war. War er einfach nur ein Reptil in einer menschlichen Tarnung oder ein Hybrid oder etwas völlig anderes?
Jedenfalls hatte der Bestatter ihr Interesse geweckt, nicht umsonst hatte sie ihn hierher geführt und ihm dann auch noch das hier gezeigt. Nicht einmal ihre Brüder wussten von ihrem kleinen Ausguck. Da unten konnte sie jederzeit gefunden werden, doch hier oben war sie außerhalb jedermanns Reichweite und aufgrund der erhöhten Position konnte niemand exakt ausmachen, wo sie sich nun befand. Das perfekte Versteck.

Pavel vermied es seine Augen Richtung Abgang zu richten während er sich hinsetzte. Stattdessen hielt er den Blick in die Ferne gerichtet. Dort wo ein paar Fischadler über dem Meer kreisen. In einer nahen Baumspitze krähten ein paar junge Falken nach Futter. Es war schön sie noch einmal zu hören. Bald würden sie für den Winter in wärmere Regionen ziehen. Egal wo er hinblickte raschelten Blätter oder knackten Äste. Das Leben war überall. Ob der vermummte Mann jemals so einen Anblick genossen hatte? Wäre er danach noch zu so einer grässlichen Tat fähig gewesen?
Er musterte nachdenklich die Wölfin neben sich. Sie war ein Raubtier, doch sie tötete um zu überleben. Der Mann mordete nicht um sich Nahrung zu beschaffen. Er richtete dem Leichnam übel zu und bemühte sich nicht einmal ihm eine anständige Beerdigung zukommen zu lassen. Wie zerstört musste eine Seele sein die in so einem Körper wohnte.
Zumindest hatte die Wölfin einen schönen Ruheplatz für sein Opfer gefunden. Pavel beendete die Musterung des weißen Raubtiers mit einem zaghaften Lächeln ehe er sich wieder dem Ausblick zuwandte.

Die Faszination für die sie umgebende Natur schien beim Bestatter keinen Abbruch zu tun. Stattdessen schlich sich ein freundliches Lächeln auf seine schmalen Lippen, das er kurz darauf zu ihr herüber warf. Etwas ungläubig hob sich die Stirnpartie der Wölfin. Sie hatte sich neben dem Bestatter hingesetzt, der sich seinerseits auf den Felsen niedergelassen hatte. Das Lächeln für die Natur um sie herum verstand Lily nur zu gut, aber wieso er bei ihrem Anblick lächelte war ihr im ersten Moment schleierhaft.
Sie ließ ihren Blick wieder über die Szenerie schweifen und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Schließlich kam sie zum Schluss, dass sie als Wildtier in seinen Augen wahrscheinlich ein Teil der Natur war, die er so offensichtlich mochte. Als Teil der Natur war sie etwas faszinierendes für offene Stadtmenschen und wohl besonders für den Bestatter, dessen Rasse wohl recht naturverbunden sein musste. Obwohl es Lily gefiel als Teil der Natur gesehen zu werden - das war ihr tausend mal lieber als als Teil der menschlichen Welt gesehen zu werden - hinterließ es ein leicht dumpfes Gefühl in ihrer Brust, das sie schwer interpretieren konnte. Es war jener kleine Funken Hoffnung, der während der Zeit in der Gegenwart des fremdartigen Bestatters gekeimt war, vielleicht doch mal einen Freund zu finden, der nun dieses bedrückende Gefühl hinterließ. Lily selbst verstand nur eines an diesem Gefühl und zwar, dass sie etwas an dieser Ansichtsweise wütend machte. Selbst als bloße Wölfin wollte sie nicht mit allem Lebenden über einen Kamm geschert werden. Sie war ein hoch komplexes Wesen, als Werwölfin noch mehr als als normale Wölfin. Sie war doch kein blödes Reh, das man fasziniert anstarrte, weil es so elegant durch den Wald hopste, im Gesamten es jedoch nicht ernst nahm. Sie war intelligent, sie wusste, dass sie etwas war, sie besaß ein Selbstbewusstsein.
Langsam begann es in Lily zu brodeln, aber bevor sie abermals nach dem Hosenbein des Bestatters schnappen konnte, besann sie sich auf eine bessere Methode mit weitaus weniger Missverständnispotential und schleckte dem Bestatter daher lieber seitlich übers Gesicht.

Eine feuchtes, raues Etwas attackierte Pavels rechte Wange. Verwirrt huschten seine geschlitzten Pupillen zur Seite um den Angreifer auszumachen. Er erblickte eine riesige, dunkle Schnauze. Die stolze Jägerin leckte über seine Wange und er war sich (fast) sicher das es kein Geschmackstest war. So zeigten Wölfe ihre Zuneigung. Pavel berührte seine Wange und inspizierte seine Fingerspitzen. Sie waren tatsächlich feucht. Er hatte nicht halluziniert.
„Du mussst dichh nichht bedanken. Du hassst mir dochh jetzt auch geholfen.“ ,versicherte er ihr. „Aussserdem habe ich es gerne gemacht.“ Oh nein, hoffentlich dachte sie jetzt nicht das er Spaß daran hatte Nadeln in verletzte Tiere zu stechen! „Naja, biss auf das Nähen, aber ich freue michh wenn esss dir bessser geht.“ ,korrigierte er schnell.
Er dachte wieder daran das sie vermutlich kein Rudel hatte. Suchte sie bei ihm vielleicht etwas ähnliches? Pavel mochte Wölfe. Jede Tierart stach mit etwas Besonderem heraus. Bei Wölfen waren es ihre unheimlich intelligenten Augen. Als würden ihren Körper uralte, weise Seelen innewohnen. Das war einer der Gründe weshalb Pavel definitiv nicht für ein Wolfsleben gemacht war. Er war als Bestatter geboren und würde dieses Handwerk solange ausüben bis er sich selbst irgendwann in die Hände eines Arbeitskollegen übergab.
Ein Rudel konnte er nicht ersetzen, aber er konnte ein Freund sein. Zaghaft hob er seine Hand und ließ die Wölfin daran schnuppern. Dann bewegte er sie langsam Richtung Nacken. Er hatte bisher noch kein Tier kennen gelernt das nicht gerne gestreichelt wurde. Allerdings hatte er zu viel Respekt um das einfach über den Kopf der Wölfin hinweg zu entscheiden. „Darf ichh?“

Verdutzt dreinblickend wandte sich der Bestatter zu Lily um und fühlte seine nasse Wange. Jetzt wo sie den Bestatter so sah, schämte sie sich fast ein bisschen für ihre kleine Attacke und senkte schüchtern den Blick. Aber zum Glück verstand er ihre Geste nicht falsch und wehrte sogar ab, dass sie sich nicht bei ihm bedanken musste. Er hätte es gerne getan, auch wenn ihm das Nähen kein behagliches Gefühl bereitet hätte. Zumindest ging es ihr aber wieder besser und das war das wichtigste.
Lily hob sofort ihren Blick wieder, als der Bestatter plötzlich seine Hand hob. Fast etwas panisch verfolgte sie die Bahn seiner Hand bis sie sich ihrem Nacken näherte. Er ließ sich Zeit und gab ihr genügend Gelegenheit seine Hand zu beschnuppern. Lily roch keine Gefahr und auch keine bösen Absichten, also ließ sie ihn machen, auch wenn ihr Blick auch weiterhin prüfend der Hand folgte bis sie ihr Fell berührte. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich bereitwillig vom Bestatter streicheln. Eine gewisse Anspannung blieb trotzdem und auch wenn ihr Blick sich nach einer Weile wieder nach vorne richtete, huschte er immer wieder über die Schulter hinüber zum Bestatter. Er schien wirklich in Ordnung zu sein. Vielleicht konnten sie ja wirklich so etwas ähnliches wie Freunde werden?

Geduldig wartete Pavel darauf das die schwarze Nase ihre Inspektion beendete. Nun sah sie überhaupt nicht mehr gefährlich aus, nur noch vorsichtig. Wölfe hatten ihren schlechten Ruf wirklich nicht verdient. Schließlich waren sie beide sicher genug, dass Pavel es riskierte seine Finger auf das weiche Fell zu legen. Es war erstaunlich wie geschmeidig es trotz des Waldlebens war. Mit jedem Strich wagte er sich ein Stückchen weiter zu ihrem Hinterkopf vor. Das Fell hatte nicht an allen Stellen die gleiche Länge. Da waren lauter kleine Flecken an denen es kürzer war. Offenbar war es noch dabei nachzuwachsen. Die frische Verletzung war wahrscheinlich nur eine von vielen. Wer konnte einem so schönen Tier so etwas antun? Pavel brachte es nicht einmal übers Herz Mäusefallen auszulegen. Die kleinen Nager fühlten sich in seiner Wohnung scheinbar ziemlich wohl und tauchten trotz seiner Reinlichkeit immer wieder auf. Er hatte natürlich Sorge um den Ruf seines Instituts sollte es irgendwann von zahlreichen Mäusefamilien bevölkert sein, das konnte ihn aber nicht dazu bringen sich über die Tiere zu stellen.
Eines war sicher, wer auch immer der Wölfin so zusetze war kein Jäger. Es sah viel mehr nach Schikane aus. „Wenn du wieder mal etwass brauchsst komm ruhig zu mir.“ ,bot er freundlich an. „O-oder ich bringe dir etwass hier her. Wohnsst du hier?“