Turmzimmer

Als Rune seine von Bergen beschützte Heimat verlassen hatte, war ihm bewusst gewesen das sein einfaches Leben damit endgültig vorbei war. Vorbei waren die Kuchenbackwettbewerbe, bei denen die Polizisten als Juroren eingesetzt wurden. In Cadysa gab es keine Zeit dafür. Hier liefen monströse, mit Krallen gespickte Wesen Amok. Hier hatte musste man bei jedem Gespräch fürchten, mit einer Maske zu sprechen.
Das waren alles Probleme mit denen Rune gerechnet hatte. Nicht gerechnet hatte er mit dem was in den letzten Tagen passiert war. Missmutig betrachtete er das Data Link Device in seiner Hand. Das Komunikationsmittel der Liga. Ein weiteres Gerät in seinem Haushalt das Strom fraß. Direkt neben ihm lächelte ihm der Abgrund freundlich zu. Das hier war der höchste Punkt im Schloss. Eine Bewegung und das Ding verschwand unauffindbar im Gestrüpp des Waldes. Und mit ihm hoffentlich alle seine neuen Probleme.
Aber natürlich landete das Gerät schlussendlich doch wieder in seiner Tasche. Es konnte die Lösung für all seine alten Probleme sein. Cadysas Probleme. Ihm blieb keine Wahl. Wegzulaufen war egoistisch. Also musste er sich weiter mit dem neuen Problem auseinander setzen. Mit ihm.
Rune lehnte seine  Wange an die kalte Steinmauer und betrachtete den Wald. Am Tag und außerhalb seiner Dienstzeit war er gerne hier. Das kleine Holzkreuz das ihm sein Partner Robbins aufgezwängt hatte, befand sich griffbereit in seiner Hosentasche.
Cromwell Castle war unheimlich schön. Rune liebte es dabei zuzusehen wie die Natur sich das mächtige Gebäude zurück holte. Im Fürstensaal wuchsen Bäume. Die Türmen waren voll mit kleinen Ästen aus denen Vögel einst ihre Nester gebaut hatten. Jahr für Jahr kehrten sie zurück. Jedes Mal zahlreicher.
Hier oben, im Fenster des höchsten Turmzimmers, war mit Abstand der schönste Platz. Die Bäume des Waldes konkurierten mit der Höhe des Schlosses. Er hörte Vögel zwitschern. Das Rauschen des Windes, vermischte sich mit der sanften Brandung des Meeres. Die alte Ruine war das einzige Zeugnis von Zivilisation in Sichtweite. Das, und die gelegentlichen Lichtreflexe, die seine polierten Stahlfinger mit dem Sonnenlicht auf das alte Gemäuer malten. Hier oben war es friedlich, fast wie in seiner norwegischen Heimat.

Jurij betrat Cromwell Castle auf etwas andere Weise, als der Fremde, dessen Anwesenheit er sich noch nicht bewusst war. Für ihn war die Welt gerade grau und er hörte noch nicht einmal seinen eigenen Herzschlag durch die Stille des Zwielichts. Er blickte sich aufmerksam um, während er langsam durch den Türrahmen schritt.
Der Magier mochte alte Gebäude. Nicht nur, weil er dort ungestört war, sondern auch, weil die alten Gemäuer oft frei von dem blauen Moos waren, das sonst überall im Zwielicht wucherte und sich von den Emotionen der Menschen und anderer Humanoiden nährte. Und auch hier war es verdorrt, ausgehungert durch die Abwesenheit von menschlichem Leben.
Ein Anblick, der Jurij lächeln ließ. Er mochte das parasitäre Moos nicht unbedingt und wenn er die Energie dafür übrighatte, zerstörte er größere Kolonien, um es so ein bisschen einzudämmen. Eine Verschwendung von wertvoller, wie Mister Hill, sein Vorgesetzter, ihm immer wieder in den Ohren hing. Jurij sah das anders: Auch einfache Feuerzauber waren etwas, das er mit der Zeit lernen sollte, und wie sollte er da denn weiterkommen, wenn er es nicht übte? Und ob er jetzt einen Feuerball ins Leere warf oder ein bisschen blaues Moos verbrannte, war jetzt auch Jacke wie Hose.
Jurij seufzte leise – auch dieses Geräusch wurde vom Zwielicht erstickt, bevor es an seine Ohren drang; es war Zeit, wieder aus dem Zwielicht herauszutreten. Normalerweise konnte Jurij wesentlich länger auf der ersten Ebene aushalten, aber er spürte, wie es an ihm zehrte und er konnte sogar sehen, wo seine dunkle Aura von ihm weggezogen wurde. Dort, wo sich das frische, noch geschwollene Tattoo sich um seinen Oberarm wand, wurden dicke, dunkelgraue Streifen von seinem Körper weggezogen und verloren sich im Nichts. Und es machte Sinn, die noch immer geschwollene Stelle war technisch gesehen eine Wunde und von denen konnte das Zwielicht Barrieren meistens leichter durchbrechen.
Jurij atmete tief durch und richtete seine Augen auf den Boden. Er musste sich konzentrieren, um in dem Grau die Spuren eines Schattens auszumachen. Er griff nach dem dunklen Umriss und hob ihn nach einigen Versuchen vom Boden, um zurück in die Reale Welt zu treten. Er schnappte nach Luft wie jemand, der gerade aus kaltem Wasser aufgetaucht war und blickte sich erneut um.
Er war am Boden einer Treppe angekommen, auf deren Stufen sich ein bisschen Dreck gesammelt hatte – vermutlich verrottete Blätter, die hier jedes Jahr hineingeweht wurden. Und in der dünnen Schicht konnte er Fußspuren ausmachen, die erstaunlich frisch aussahen. Sie gingen die Treppe hinauf, aber sie kamen nicht wieder hinab; woraus der Magier schlussfolgerte, dass er nicht allein war.
Er blickte sich noch einmal um, dann machte er sich auf den Weg die Treppe rauf. Schließlich, kurz bevor er oben angekommen war, blieb der Magier stehen und zögerte. Was, wenn das nicht die beste Idee war? Er war irgendwo im Nirgendwo Fußspuren gefolgt, von denen er nicht wusste, wem oder sogar was sie gehörten. Dazu kam, dass er nur ein kleines Messer bei sich hatte und es durchaus Kreaturen gab, denen er damit nicht gewachsen war.
Jurij spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten und er verzog das Gesicht. Er war nervös, aber da war auch immer noch die Neugierde, wer sich hier wohl um die Zeit herumtrieb. Mit einem kaum hörbaren Seufzen verdrehte der Magier die tätowierten Augen und kramte eine Packung Zigaretten und sein Feuerzeug raus. Er steckte sich die Zigarette in den Mund, zündete sie an und machte dann die letzten Schritte hoch, sodass er vom Raum aus sichtbar wurde.
Noch bevor er den Raum betrat, sah er den jungen Mann im Fensterrahmen sitzen, den Blick nach draußen gewandt. Er war schlank und hatte kurzes braunes Haar. Und sein Arm… war das Metall? Jurij kniff die Augen zusammen und musterte ihn genauer; das sah schon fast unwirklich aus. Auf der anderen Seite war er wohl kaum qualifiziert, das zu beurteilen. Er machte noch einen Schritt nach vorne, sodass er im Türrahmen stand, ehe er sich räusperte, um sich bemerkbar zu machen, hoffend, dass der Fremde nicht vor Überraschung aus dem Fenster fiel.
„Hätte nicht gedacht, hier um die Zeit noch jemanden zu treffen,“ Sagte Jurij mit ruhiger Stimme und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Seine Stimme war rau und fast ein bisschen heiser; er rollte die R’s ein bisschen und sprach etwas langsam.

Das erste was Rune wahrnahm waren Schritte. Sofort umschlossen seine menschlichen Finger das Kruzifix in seiner Hosentasche. Nicht weil er religiös war, sondern weil er wusste das die Untermieterin dieses Schlosses eine starke Abneigung gegen diese Dinger hatte. Er hatte weitaus größere Probleme als eine alte Fledermaus die ihm nach dem Leben trachtete. Aber eine Begegnung wollte er trotzdem möglichst kurz halten. Bei ihrer letzten Auseinandersetzung hatte sein T-Shirt einen Riss quer über die Brust davon getragen und Rune wollte es gerne vermeiden, den Kleidungsmarkt unnötig zu unterstützen. Auch seinem heutigen, viel zu großem Outfit sah man wieder einmal eindeutig an das es Second Hand-Ware war. Seine dürren Arme, der aus Stahl genauso wie der aus Fleisch, gaben den Ärmeln des weißen T-Shirts beinahe ein Flügelhaftes Aussehen weil sie derart abstanden. Es steckte in einer, an den Knien aufgescheuerten, Jeans die seine schlanke Körperform zumindest erahnen ließ. Komplementiert wurde dieser nicht einmal halbherzige Look von seinen wie immer ungezähmten Locken.
Tatsächlich war die Gestalt die in der Tür erschien ebenso hager wie die minderlebendige Schrulle die im Untergeschoss wohnte. Auch die Art zu sprechen passte zu der alten Vettel. Aber da hörten die Ähnlichkeiten auf. Dieser Kerl sah eher aus, als wäre einem Alternative-Katalog entstiegen. Ob das mit seinen Augen so gewollt war, oder ob es auf seine Herkunft hinwies konnte Rune nicht sagen. Allerdings war er sowieso der Letzte der darüber urteilen durfte. Wortlos hob er seine silberne Hand um den winzigen Knopf in seinem Augenwinkel zu betätigen. Das bionische Auge leuchtete hell auf, während er den Fremden eingehend musterte. In leuchtenden Orange- und Rottönen hob die Gestalt sich von dem kalten, blauem Gemäuer ab. Auch in der Jackentasche war ein blauer Fleck, der sich beim genauem Hinsehen als Messer heraus stellte. Ansonsten war der Typ unauffällig. Solange er sich nicht in die Reichweite seines Armes begab, gab es wenig Anlass für Rune sich um seine Sicherheit zu fürchten.
Während er die Kamera wieder auf normale Sicht umstellte, nahm er einen tiefen Atemzug. Jetzt versuchte er heraus zu finden ob es sich lohnte den rauchenden Kerl nach einer Zigarette zu fragen. Alles was er riechen konnte war handelsüblicher Tabak, aber da konnte er sich auch irren. Seine olfaktorische Wahrnehmung war zum Glück nicht durch Technik erweitert worden.
"Dir ist bewusst, das dieses Gebäude einsturzgefährdet ist?" Mit dieser Frage schloß Rune seine kurze Inspektion ab. Als Letztes galt es die Motivation des Unbekannten zu klären.

Jurij runzelte die Stirn etwas, als der Fremde sich umdrehte. Sein Rechtes Auge leuchtete, richtig hell sogar und auf eine Art, die komplett unnatürlich schien. Und sein rechter Arm, der Jurij ja schon aufgefallen war, als der Typ noch aus dem Fenster gestarrt hatte, war definitiv aus Metall. Die Finger und auch der Arm selbst waren zu filigran, als dass da noch ein menschlicher Arm reingepasst hätte. Außer das Metall war so dünn, dass es sich bei der leichtesten Berührung verformte, aber das glaubte der Magier nicht.
Bevor er in seinem Kopf überhaupt die Frage formulieren konnte, ob das Ding nur kosmetisch war, oder auch einen praktischen nutzen hatte, hob der Fremde schon die Hand und fummelte an seinem Auge rum. Also praktisch. Jurij kniff die Augen zusammen und versuchte, auszumachen, was der Kerl da tat, aber wirklich sicher sagen konnte er es nicht.
Dass er von oben bis unten gemustert wurde, störte ihn allerdings auch nicht weiter. Er war es gewohnt, dass Leute versuchten, ihn einzuschätzen und das war sonst nur auf der Straße. Hier waren sie an einem abgeschiedenen Ort und Jurij hatte ihn grade ziemlich aus dem Nichts angesprochen. Und er war ja selbst auch etwas vorsichtiger bei Fremden. Vor allem bei solchen, von denen er sich vorstellen konnte, dass sie wahrscheinlich einen erheblichen Schaden bei ihm anrichten konnten. Und wenn der Arm tatsächlich aus Metall und relativ solide war, konnte der Typ wahrscheinlich ganz schön zuhauen.
Als er schließlich sprach, wies er Jurij darauf hin, dass das Gebäude einsturzgefährdet sei, was den jungen Magier dazu bewegte, schmunzelnd mit den Schultern zu zucken, ehe er einen weiteren Zug von seiner Zigarette nahm. „Ich habs mir gedacht, aber es stört mich nicht wirklich. Ich mag alte Gebäude und ich bin eigentlich hergekommen, um meine Kräfte zu trainieren, ohne dabei jemanden in Gefahr zu bringen,“ erklärte der Magier während er seine Haare ein bisschen richtete. Er hatte sie am Morgen eindeutig nicht richtig in Form gebracht oder vielleicht auch einfach nicht genug Gel benutzt, auf jeden Fall saßen sie jetzt nicht richtig und fielen ihm bei unbedachten Bewegungen ins Gesicht. Nicht, dass er das jetzt anständig hätte richten können, seine Haarprodukte waren zuhause und einen Spiegel hatte er auch nicht zur Hand.
Allerdings waren seine Haare jetzt auch nicht wirklich wichtig. Er war zwar schon eine Weile in der Stadt, aber bis auf seinen Tätowierer kannte er hier bisher kaum jemanden. Vielleicht war sein Gegenüber ja jemand, mit dem man Spaß haben konnte. Er machte noch einen Schritt auf den Fremden Zu und streckte die Hand wie zum Händedruck aus während er sagte: „Ich bin übrigens Jurij. Jurij Gorodetsky.“ Beim erwähnen seines Nachnamens verzog er ein bisschen das Gesicht, ging dann aber gleich wieder zu seinem Lächeln zurück und ließ die Hand ausgestreckt, für den Fall, dass sein Gegenüber den Händedruck erwidern würde. Er mochte seinen Nachnamen nicht, aber wenn er sich vorstellte, half es wohl, den vollen Namen zu nutzen, vor allem, da sich manche ja unwohl dabei fühlten, jemand fremdes bei seinem Vornamen anzusprechen.

In Cadysa reichte es leider häufig nicht jemanden auf Waffen zu untersuchen. Runes Augenbraue schnellte alarmiert in die Höhe als der Unbekannte seine im Moment noch ziemlich mysteriösen Fähigkeiten erwähnte. Schwarze Gestalten und Kräfte waren nichts das er mit all zu guten Assoziationen verband.
Der harte, russische Akzent bildete einen starken Kontrast zu dem, was der Norweger mit der englischen Sprache verantstaltete. Doch er wirkte eigentlich nicht gefährlich. Nur wie jemand der sehr viel Wert auf sein Aussehen legte und darauf sich abzugrenzen. Grundsätzlich war das nichts verwerfliches. Nur unnötig.
In das Bild passte weniger das er offenbar ein Mensch war der Hände schüttelte. Misstrauisch legte sich Runes Stirn in Falten. Viele machten das nur um seinen rechten Arm in die Griffel zu bekommen. Außerdem waren die Blicke in diese Richtung nicht unbemerkt geblieben.
"Ja, der ist echt.", brummte Rune und reichte ihm aus Prinzip die linke Hand, auch wenn er dafür seinen Arm ganz schön verdrehen musste.
"Rune ", stellte er sich knapp vor und widmete sich wieder dem Ausblick. "Und Ich bin nicht gerne in Gefahr. Ich hoffe deine Kräfte können das im passiven Zustand gewährleisten. ", harkte er misstrauisch nach.

Jurij blinzelte auf die gebrummte Bemerkung für einen Moment, aber als sein Gegenüber ihm dann demonstrativ den linken Arm entgegenstreckte, verstand er. Schnell wechselte der Russe die Hand, um den Händedruck einfacher zu machen, während er anmerkte: „Dude, dein Arm könnte aus rosa Zuckerwatte sein und das würde mich nicht jucken. Ich hab nur versucht, dich einzuschätzen und mir ist auch nicht entgangen, dass du das ebenfalls getan hast.“
Jurij drückte die Hand seines Gegenübers, der sich nun als Rune vorstellte, kurz und ließ dann los. Er hatte nicht gelogen, im Prinzip war es ihm egal, was für Körpermodifikationen sein Gegenüber hatte und warum. Das ging ihn nichts an. Aber wenn die Kraft, die wahrscheinlich mit einem Arm aus Metall einherging, eine Gefahr für ihn darstellte, sollte sein Gegenüber auf einmal weniger freundlich werden, änderte sich das natürlich und er sah es nicht als verwerflich an, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Rune hatte allerdings scheinbar keine Intention, einen Streit anzufangen und solange er das nicht tat, hatte auch Jurij kein Problem mit ihm. Er zog an seiner Zigarette, blies einige Rauchringe in die Luft und antwortete dann hörbar entspannt: „Nö, ich muss sie schon aktiv nutzen. Hab jetzt auch nicht vor, damit anzufangen, immerhin bin ich nicht, wie ich dachte allein. Aber sag mal…“
Der Magier runzelte die Stirn und musterte Rune noch einmal. Er wusste nicht warum, aber irgendwie klingelte bei dem Namen was bei ihm. Nur ganz einordnen konnte er es nicht, denn er hätte mit Sicherheit weder den Arm, noch das Auge so schnell vergessen. Aber rätseln half da auch nicht. Fragen, auf der anderen Seite… „Kenn ich dich irgendwo her? Ich weiß nicht warum, aber irgendwo klingelt da was bei mir.“

Nicht überzeugt runzelte Rune die Stirn als Jurij sein Desinteresse an seinem Arm bekundete. Die wenigsten Gaffer gaben es offen zu. Den meisten konnte er es nicht einmal verüben. Es war schließlich nicht so dass das Ding, das statt einem Arm an seiner Schulter hing, in dezenten Farben gehalten war. Er würde vermutlich auch skeptisch sein. So wie er den fremden mit den seltsamen Augen gemustert hatte. Es war ihm trotzdem unangenehm begafft zu werden. Er merkte das förmlich wie er in die Kuriositäten-Schublade gesteckt wurde.
Viel wichtiger war es jetzt ohnehin erst einmal zu klären ob der Typ eine Gefahr darstellte. Seine Gesellschaft in einem baufälligen Turm suchte er sich besser gut aus. Apropos! Er sollte sich lieber vom Fenster entfernen. Er schwang die Beine vom Gemäuer und lehnte sich stattdessen an die Wand neben dem Fenster. Die Arme vor der Brust verschränkt.
Währenddessen fragte Jurij sich ob sie sich kannten. Runes Augen wurden zu Schlitzen als er ihn abermals musterte. Jemand mit solchen Augen wäre ihm sicherlich in Erinnerung geblieben. Zudem hatte er nicht allzu viele soziale Begegnungen in der Stadt. Die meisten kannten ihn als griesgrämigen Constable. Der Typ war auch keiner der Verbrechenskämpfer, die ihren Hintern für diese Stadt riskierten und in deren Gruppe Rune sich tragischerweise ziemlich gut einfügte. Blieb also nur noch eine Option. Der Name und der russische Akzent passten jedenfalls. "Du bist der Typ mit dem Arbeitskollegen, der lieber andere für sich denken lässt." Er erinnerte sich wieder an die Konversation unter einer seiner...emotionalen Eskapaden im Internet. Ach, wie leicht war sein Leben vor einem Monat noch gewesen als er einem bekloppten Bauingineur hinterher geheult hatte...
"Hat er inzwischen gemerkt, dass sein Kopf auch etwas anderes als kopieren kann?" Niemand kam von sich aus, auf die Idee das Homosexualität etwas widerwärtiges war. Es war ein Gedanke, der stehts von jemand anderen gesät wurde. Also war es eine treffsichere Methode um geistige Armut zu erkennen.

Das Stirnrunzeln entging Jurij durchaus nicht und er verstand es ja auch. Wenn man so offensichtliche Merkmale hatte, die die ungewollte Aufmerksamkeit anderer auf sich zog, waren irgendwann sogar berechtigte Blicke an manchen Tagen zu viel. Kurz überlegte er, ob es das wert war, dann seufzte er leiste: „Ich meins ernst, dein Arm ist mir schnuppe. Glaub mir, ich weiß, wie das ist, angestarrt zu werden.“
Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, zog sie aus und entblößte so seine bleichen Arme, auf denen sich die Narben häuften, die er normalerweise vor der Öffentlichkeit versteckte. Er war sich nicht sicher, inwiefern das der richtige Move war oder ob sein Gegenüber jetzt dachte, dass er Mitleid erhaschen wollte – etwas, das Jurij ferner nicht hätte liegen können. Das Mitleid eines Fremden war für ihn eher störend, als begehrenswert und ging oft Hand in Hand mit einem herablassenden Ton.
Der Ausdruck des Magiers hellte sich auf, als sein Gegenüber nach einigem Nachdenken auf seine Frage antwortete. Daher konnte er mit dem Namen also was anfangen: Rune war der Kerl, der ein Bild gepostet hatte, das er unbedingt Nathan hatte zeigen wollen.
Die ganze Interaktion war nicht ganz so ausgegangen, wie Jurij das geplant hatte und Nathan hatte ein Wort fallen lassen, das ganz schön unter die Gürtellinie gegangen war, aber Rune war ihm nach dem Austausch erst mal grundliegend sympathisch gewesen. Auf die Frage hin, ob Nathan mittlerweile für sich selbst denken könne, schüttelte Jurij nur seufzend den Kopf: „Nö, da läuft immer noch nix. Ich glaub bei dem sind Hopfen und Malz verloren, aber nach einem Gespräch mit einer gemeinsamen Kollegin hat er zumindest gemeint, er sagt so nen Scheiß nicht nochmal.“
Gespräch war hier ehrlich gesagt das falsche Wort gewesen. Eliza hatte Nathan am Kragen hochgehoben und ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er mehr als nur die Diskussion verlieren würde, wenn er sich wagen sollte, Jurij noch einmal so zu bezeichnen. Jurij war darüber nicht unbedingt glücklich gewesen, weil es damit erschien, als könnte er nicht für sich selbst eintreten, aber Eliza hatte Nathan zumindest an einem Stück gelassen. Hätte seine Schwester von dem Austausch mitbekommen, wäre das wohl nicht garantiert gewesen.