Dr. Hayden's Kontakte

Eine dünne Stimme meldete sich. Es war Elaine. Hayden nahm einen erleichterten Luftzug. Sie hatte sich also dazu entschlossen sich zu öffnen. Außerdem war da etwas in ihrer Stimme, was ein kleines Lächeln über seine Lippen zucken ließ. "Ah, eine Landsfrau, wie schön." Das nahm er zum Anlass selbst seine Vokale weicher und seine Konsonanten härter werden zu lassen. Das war nach einem Jahr in England eine wahre Entspannung für seine Lippen und Zunge.
"Danke für deinen Anruf. Ich will ehrlich sein. Ich mache mir Sorgen um dich, aber das hast du dir bestimmt schon gedacht." Ihr letzter Beitrag war ein klarer Hilferuf gewesen. Trotzdem hatte Hayden nicht vor das Mädchen auszufragen. Erst einmal wollte er schauen, wie viel sie von sich aus von den Vorgängen in ihrem Kopf Preis gab.
"Also, wie geht es dir jetzt?" Etwas machte ihn stutzig. Sie befanden sich mitten in der Stadt. Beide in dicht bewohnten Gebieten. Warum war die Verbindung so schlecht? Lag es vielleicht daran das sie von der Moon Academy aus anreif? Eigentlich wollte er Elaine gerade am liebsten von Zivilisation umgeben wissen. "Bist du gerade draußen?"

Die Bemerkung mit der Landsfrau kommentierte Elaine nicht weiter. Aber der Akzent, der sich nun in der Stimme des Doktors niederschlug hatte etwas Beruhigendes für Ellie. Es war einfach etwas vertrautes in einem Land, das ihr noch immer etwas fremd erschien.
Dass er sich Sorgen gemacht hatte, das hatte Elaine tatsächlich noch aus seinen Worten herauslesen können. Sie nickte mehr zu sich selbst als zu ihm, der das ja nicht sehen konnte und antwortete: „Habe ich… Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich so spät noch die Zeit nehmen.“ Na ja, spät… für Elaine war es eher früh. Sie war erst seit knapp zwei Stunden auf. Aber sie hielt es für unwahrscheinlich, dass dasselbe für den Psychologen der Fall war.
Sie wollte gerade auf die erste Frage, die er ihr gestellt hatte, da folgte auch schon eine zweite und sie entgegnete ein bisschen überrascht: „Nein, ich bin in meinem Zimmer, wieso?“ Eine seltsame Frage. Was ließ Dr. Sullivan davon ausgehen, dass sie sich draußen aufhielt, wenn sie gerade im Inbegriff war, einen Psychologen anzurufen? Da lud sie ungewollte Ohren ja geradezu ein und insbesondere in Anbetracht ihrer Situation wollte sie das wenn irgend möglich vermeiden.

"Kein Problem, ich sehe das noch als normale Arbeitszeit an." Zumindest diese Sorge konnte er Elaine nehmen, auch wenn sie wahrscheinlich winzig war im Vergleich zu dem was sie noch mental mit sich herum trug. Er reckte den Hals um auf die Uhr auf dem Schreibtisch zu spähen, um zu überprüfen wie viel Wahrheit hinter seiner Beschwichtigung steckte. Kurz nach elf...naja, es war zumindest kurz nach seiner regulären Arbeitszeit. Wenn die Geschöpfe der Nacht bis elf nicht angerufen hatten, taten sie es für gewöhnlich erst in den frühen Morgenstunden. In der tiefen Nacht waren die meisten von Reue weit entfernt und die spielte meistens eine große Rolle bei nächtlichen Anrufen.
Genau deswegen machte er sich auch solche Sorgen um Elaine. Er legte seinen Daumen kurz auf den Lautsprechereingang damit sie sein erleichtertes Seufzen nicht hören konnte. Sie war in ihrem Zimmer, also wahrscheinlich aktuell nicht im Begriff einen fatalen Fehltritt zu machen. Die schlechte Qualität erklärte das natürlich nicht, aber sie war zumindest in Sicherheit.
"Die Verbindung ist nicht allzu gut, aber das kann in der Moon Academy manchmal vorkommen. Es gibt Theorien das sie in einer Raumfalte liegt." Wenn man in seiner Freizeit schon unentgeltlich angehende Physiker therapierte, sollte man doch zumindest hin und wieder mit deren Wissen prahlen dürfen. Auch wenn er es dieses Mal nur in einem Nebensatz fiel, Elaines Situation war nämlich höchst beruhigend.
"Wie geht es dir aktuell? Soll ich vorbei kommen oder bevorzugst du ein Telefonat?"

Die Verbindung? Jetzt war Elaine erst recht verwirrt. Sie konnte den Psychologen glasklar hören. War ihr Handy etwa kaputt? Oder war es vielleicht der Lautsprecher seines Telefons? Wären die Verbindungsprobleme beidseitig gewesen, so hätte sie diese wahrscheinlich darauf geschoben, dass sie in einem Keller war. Aber sie hatte noch nie von einem Problem gehört, dass die Verbindung nur in eine Richtung signifikant verschlechterte.
Noch einmal wiederholte der Psychologe die Frage, die er ihr eben schon gestellt hatte und stellte sogleich eine zweite, auf die Elaine nicht wirklich eine Antwort wusste. Einerseits wollte sie nicht allein sein… sie hasste die Einsamkeit im Moment. Aber andererseits war da ein Teil von ihr, der befürchtete, sie könne wieder die Kontrolle verlieren.
Sie schloss die Augen für einen Moment, wickelte eine Strähne ihres langen, schwarzen Haares um ihren linken Zeigefinger und horchte in sich hinein; das Biest war gerade ruhig. Sie war nicht hungrig, sie hatte keine Schmerzen und sie fühlte sich nicht übermäßig gereizt. Unter diesen Umständen war sie wahrscheinlich keine Gefahr, solange nichts Unvorhergesehenes passiert.
Dr. Sullivan konnte sie vermutlich tief durchatmen hören, bevor sie schüchtern antwortete: „Ich würde ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht bevorzugen, falls ihnen das nichts ausmacht. Grade, wenn die Verbindung nicht so gut ist.“ Vermutlich hätte er es nicht angeboten, wäre er nicht bereit, auch tatsächlich vorbei zu kommen, aber Elaine wollte nicht fordernd klingen. Sie hätte grade vermutlich alles für ein freundliches Gesicht gegeben.

Rasch stand Hayden wieder auf um zu seinem Schreibtisch zurück zu kehren. Elaine wollte ein persönliches Gespräch, das überraschte ihn. Viele bevorzugten eine gewisse Distanz bei einem ersten Treffen und öffneten sich eher wenn sie das Gesicht ihres Gesprächspartners nicht sahen. Für ihn war das natürlich umso besser. So konnte er sich ein direktes Bild von ihr machen.
"Ausgezeichnet. Gib mir eine halbe Stunde. Soll ich direkt zu dir kommen, oder..." Hayden öffnete die aktuellen Stundenpläne der Nachtklassen und das Profil der Schülerin. Wo fühlte sie sich wohl am wohlsten? Das war einfach. Zwei Dinge dominierten klar ihre Interessen, Musik und Kunst. "Wollen wir uns im Musikraum im zweiten Stock treffen? Da findet heute kein Unterricht mehr statt."

Eine halbe Stunde, und sie würde endlich mal mit jemandem reden können. Elaine zögerte keine Sekunde, um zu antworten: „Der Musikraum klingt nach einem guten Treffpunkt, ja. Ich sehe Sie dann in einer halben Stunde?“
Während sie auf die Antwort von der anderen Seite wartete, blickte Elaine an sich herunter. Sie sah eigentlich ganz Präsentabel aus und konnte keinen Grund erkennen, aus dem sie sich vielleicht vor dem Treffen hätte umziehen sollen.

"Genau. Ich werde da sein. Versprochen!" Hayden beendete das Telefonat und blickte zur Uhr. Es war zu spät um die Straßenbahn zu nehmen. Er könnte die Strecke in einer halben Stunde zwar auch zu Fuß bewältigen, aber er wollte auf keinen Fall riskieren das Elaine auch nur eine Minute länger als nötig wartete. Nicht jetzt wo sie beschlossen hatte sich zu öffnen. Sie musste merken das er sie ernst nahm. Anscheinend hatten das bisher nicht viele getan.
Die Krawatte ließ er über seinem Schreibtischstuhl hängen. Er zog lediglich seine Schuhe an und streifte ein Sakko über, während er ein Taxi bestellte. Dieses Mal hoffentlich mit einem Fahrer der noch vollständig unter den Lebenden weilte.