Tonys Dachwohnung

Ich sah ein paar Sekunden das Glas an. Es musste so wirken, als hätte ich die Frage nicht gehört, als würde ich gar nicht wirklich wahrnehmen, dass Tony überhaupt noch hier war. Dabei hatte ich die Frage gehört. Und meine Gedanken schweiften erneut ab. Wollte ich wirklich mehr über ihn wissen? Meine Neugierde war da, ja am Liebsten wollte ich alles wissen. Alles, was es zu wissen gibt. Doch es gab Grenzen, die ich nicht überschreiten wollte. Und diese gehörte dazu.
"Nein, über dich möchte ich nichts mehr wissen. Das macht es einfacher. Für mich UND für dich.", sagte ich etwas trocken, dann sah ich wieder mein Glas an. Ich wusste, dass das Gehirn negative Ereignisse Ereignisse sehr viel langsamer verarbeitete, als positive. Vermutlich werden es nicht ein paar Tage sein, sondern Wochen und Monate. Doch das war ein Preis, den ich gezahlt hatte und den ich akzeptiert hatte, wenn ich mehr über Magie wissen wollte.
"Das Einzige, was ich jetzt will ist zu sehen, ob ich die nötigen Anforderungen erfülle, um von dir ausgebildet zu werden.", murrte ich. Dabei tippelte ich nervös auf der Seite des Glases herum und nippte noch einmal daran.

Tony wartete, überließ Sanitas seinen Gedanken. Jemanden zu irgendetwas zu drängen war nach einem Soulgaze nicht das Beste. Er war ja schon froh, dass Sanitas nicht umgekippt war, was eigentlich auch ziemlich häufig passierte. So erzählte man es sich jedenfalls unter Seinesgleichen. Erlebt hatte er es bisher noch nicht, bei der geringen Soulgaze-Anzahl aber auch nicht überraschend. Andy war kurz davor gewesen, aber irgendwie hat sie sich dann doch zusammengerissen. Was wohl nicht auch an seinen Armen gelegen hatte, aber das war alles Vergangenheit. Schließlich antwortete Sanitas doch noch.
„Stimmt. Du sagtest, du würdest möglicherweise einen Weg kennen das herauszufinden.“
Erwartungsvoll sah Tony zu Sanitas. Angst vor einem erneuten Soulgaze hatte er nicht, es passierte nur einmal mit einer Person. Selbst in 10 Jahren würde es nicht nochmal dazu kommen. Kurz wich sein Blick zu einem kleinen Bücherregal, in dem einige alte, mitgenommene Bücher standen. Man konnte nur ahnen, wie alt sie waren. Und selbst mit diesem gerateten Alter würde man wohl noch weit unter ihrem tatsächlichem liegen. Manche hatten sogar leichte Brandflecken. Doch sie hatten das Feuer überlebt, damals. Es war wohl ein Schutzzauber um sie gelegt worden, damit sie erhalten blieben. Vielleicht stünde sogar in ihnen irgendwo etwas darüber, wie er es herausfinden konnte ob Sanitas fähig war? Doch lieber wollte er erst seine Idee hören.

Ich nickte. Langsam hörte das Zittern auf und ich konnte wieder meine Umgebung realisieren. Ich konnte mich wieder konzentriere, auch wenn der Schmerz von Tony noch tief saß. Aber es war nichts, was mich umbrachte. Und was mich nicht umbringt macht mich stärker. Jetzt konnte ich ihn wieder ansehen und ich wusste rein intuitiv, dass dieser Soulgaze nicht wieder passieren wird.
"Ja, ich kenne eine Möglichkeit. Jedenfalls die Theorie, denn mein Vater hat sie einst bei mir angewendet. Jedoch kann ich nur schildern wie er vorgegangen ist und ich kann auch nur erzählen, was er mir erzählt hat. Ob es wirklich funktioniert kann ich also nicht sagen.", warnte ich vor. Damals hatte er, um sicher zu gehen, diesen Test bei mir durchgeführt. Er wollte wissen, ob das wirklich Ich war, der da gezaubert hatte. Er wollte sicher sein, dass kein anderer seine Finger im Spiel hatte. Wobei er eigentlich auch anders hätte sicher gehen können, denn das Gen für die Anwendung von Magie war bei Männern dominant. Es besteht eine 70%ige Chance, dass bei dem Kind, falls die Frau nicht magisch begabt ist, magische Fähigkeiten auftreten. Wenn Mutter und Vater Magier sind, dann liegt die Chance sogar bei über 90%. Wenn nur die Mutter magisch begabt ist, dann sind es für gewöhnlich 40 - 50%. Es war ein interessantes Thema, die Vererbung, doch das war nun nicht das, was sie brauchten. Ich hatte jetzt kein Biologie. Auch wenn es mein Lieblingsfach war.

"Mein Vater hat mich damals an bestimmten Punkten am Kopf berührt. Es war einmal die Nasenwurzel, die Nackenmuskelansätze und die Schläfen. Dort hat er seine Finger gehalten und dann schloss er die Augen. Er hat irgendwie mit meinem Körper Kontakt aufgenommen. Es muss eine magische Fähigkeit sein. Auf jeden Fall drang er in meinen Geist ein und ich ließ es zu. Dort schien er alle nötigen Informationen gefunden zu haben, die er brauchte. Vielleicht findest du sie dort auch.", erklärte ich und kratzte mich etwas am Kopf. Hoffentlich war das verständlich. Ich kannte auch noch eine anderen Möglichkeit, doch diese war mir ein wenig unangenehm...

Sanitas schien es besser zu gehen und Tony war froh darum. Langzeitfolgen eines Soulgaze waren nicht bekannt, aber trotzdem. Je eher man sich erholte, desto besser. Und damit war das Thema für ihn auch abgeschlossen. Wenn ihn der junge Magier etwas fragen würde, würde er wahrheitsgemäß antworten – wenn die Fragen nicht zu privat waren.
„Einen Versuch ist es wert, denke ich. Wenn es nicht klappt hätte ich vielleicht auch noch ein paar Möglichkeiten parat.“
Er könnte es mit dem dritten Auge versuchen. Aber solange er das verhindern konnte würde er es tun. Er war Magier, hatte schon einige Dinge erlebt. Aber trotzdem nutzte er das Dritte Auge nur wenn es keine andere Wahl mehr gab. Denn alles, was er damit sah, würde sich für immer in seine Erinnerungen brennen. Er würde diese Dinge nie mehr vergessen können, so schrecklich sie auch sein möglich. Vielleicht würden sie irgendwann verblassen – auch erst nach sehr langer Zeit – aber verschwinden würden sie nie. Als Sanitas den Vorgang schilderte hörte er aufmerksam zu. Doch als sein Gegenüber geendet hatte schüttelte er vehement den Kopf.
„Nein. Das werde ich nicht tun. Auch wenn du mir den Zugang zu deinem Geist gewähren würdest, nein. Es gibt Gesetze, die selbst ich nicht bereit bin zu brechen.“
Es war nicht persönlich gemeint, dass Sanitas‘ Vater ein Gesetz gebrochen hätte. Sie lebten in verschiedenen Gesellschaften. Und der Rat war eben nun mal ziemlich...altmodisch was Regeln betraf. Entweder man hielt sich daran, oder man war einen Kopf kürzer.
„Ich hoffe du fasst das jetzt nicht falsch auf, aber...ich kann es nicht tun.“
Stattdessen stand er auf und ging zum Bücherregal. Er fuhr mit den Fingern die Reihe entlang, suchte nach einem bestimmten Buch. Als er es gefunden hatte zog er es heraus und schlug es auf, was ein paar Staubwolken aufwirbelte.
„Gibt es irgendwelche besonderen Dinge, die dir passiert sind? Irgendwas Ungewöhnliches?“
Er sah Sanitas nicht an, starrte stattdessen in das Buch und blätterte ein wenig herum.

Ich war etwas überrascht. Wieso konnte er das nicht tun? War es falsch? Oder verboten? Oder war es gefährlich? Vielleicht... Magie ist nie wirklich ohne Risiko. Aber bei meinem Vater damals war es so einfach gewesen. Vielleicht weil ich ihn schon Zeit meines Lebens kenne. Oder weil ich ihm sehr vertraut habe. Vielleicht müsste ich dieses Vertrauen erst zu Tony aufbauen, damit wir wirklich zusammen arbeiten können, damit er mich unterrichten kann. Wenn er das denn überhaupt wirklich will. Momentan stellte ich alles infrage. So wie er mit seiner Frage, über die ich erst einmal nachdenken musste.

»Das Einzige, was auf deine Beschreibung passen könnte, wäre die Tatsache, WIE ich meine magischen Fähigkeiten entdeckt habe... Es war in einem Streit mit einem meiner... Mitschüler. Er hat mich provoziert und mich geschlagen und ich bin dabei so emotional zusammen gebrochen, dass ich ihn und seine Freunde im Flammen hab aufgehen lassen.« erzählte ich ihm. Ja, es war das erste Mal, dass ich überhaupt irgendwie mit Magie in Berührung gekommen bin. Natürlich wurden mir immer Geschichten darüber erzählt, der Zauberer von Oz oder andere Märchen, die für die Unterhaltung waren... Ich hatte niemals geglaubt, dass es sie wirklich geben würde, die Magie. Und dann ausgerechnet Ich? Ich hatte mich zu dem Zeitpunkt gefragt, was das Schicksal wohl mit mir vor hatte. Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich, dass Feuer NICHT mein Element sein wird. Es war mir zu... aufbrausend und wild, zu unkontrolliert. Ich wusste zwar, dass man es kontrollieren konnte, wenn man sich damit beschäftigte, doch auch daran hatte ich kein wirkliches Interesse. Also würde ich jetzt darauf warten, was Tony noch fragte oder sagte.

„Unkontrollierte Entladung in einer Stresssituation.“
Das war das einzige was Tony vorerst sagte. Er hatte viel davon gehört, bei ihm war es ja auch ähnlich gewesen. Nur dass es bei ihm nicht durch Wut ausgelöst worden war, sondern eher durch etwas, das Verzweiflung sehr ähnlich war. Eine Mischung aus Verzweiflung und Resignation. Er rief diese Gefühle wieder in sich wach, rief sich die Erinnerung zurück. Es war einfach so passiert. Wie bei Sanitas. Er hatte im herumblättern innegehalten, blickte auf die Seite herab, die er gerade offen hatte. Seine Lippen verengten sich, waren nur noch ein schmaler Strich. Und da dämmerte ihm etwas. Eine Idee, so simpel dass er es schon vergessen hatte. Er war nicht wirklich der defensive Magier, doch einen Schutzzauber beherrschte er wie kein anderer. Er konnte von nichts und niemandem durchdrungen werden, außer die Schlupflöcher die man vorher mit eingebaut hatte. Und das würde Tony jetzt auch tun. Er holte sich aus dem Nebenraum erneut eine Kerze, die er jedoch nicht entzündete. Stattdessen ritzte er vorsichtig mit einer Messerspitze einen Kreis ein. Ehe er ihn vollendet hatte leitete er seinen Willen ein, zwang den magischen Kreis sich zu schließen. Dann wandte er sich an Sanitas, stellte die Kerze auf den Tisch.
„Entzünde die Kerze. Wenn du es schaffst wissen wir, dass ich dich in meiner Art der Magie lehren kann. Um ihr liegt ein Schutzwall, der alle Art von Magie oder Fremdeinwirkung abblockt. Ich habe nur den Zugang offen gelassen, dass sie durch meine Art der Magie entzündet werden kann.“
Er räumte das Buch wieder weg, setzte sich dann wieder auf das Sofa und wartete ab was geschehen würde.

Ich betrachtete die Kerze. Ich sah den Kreis. Ich sah alles, was ich sehen musste. Und doch verstand ich es nicht. Was wollte er damit bezwecken? Klar, herausfinden, ob er mich unterrichten konnte... Doch noch verstand ich seine Art der Magie nicht ganz. Wie also sollte ich die Kerze entzünden? Ich wusste, dass ich es über die Natur nicht machen konnte. Die einzigen Möglichkeiten, die mir übrig blieben, war ein Blitz, der nebenbei auch noch das Haus demolieren würde oder eine Art Vulkanausbruch, der mehr als das Haus demolieren würde. Das wäre aber auch meine Art der Magie gewesen... Ich muste keine Verbindung zu der atur aufbauen, damit ich Magie wirken konnte. Wie hatte ich es damals gemacht? In mir war so viel Wut gewesen, dass ich es vergessen haben muss. Und ich wollte nicht unbedingt wieder auf Emotionen zugreifen müssen, um unkontrolliert Magie zu wirken. Das war viel zu gefährlich.

Ich legte eine Hand an den Fuß der Kerze. Ich tippelte ein wenig mit meinem Finger darauf herum. Mir fiel irgendwie nichts ein. Ich schloss die AUgen und versuchte die Magie in meinem Inneren zu finden. Irgendwie musste sie ja da sein, irgendeine Präsenz die mir auch die Möglichkeit gab Kontakt zu der Natur aufzunehmen. Irgendetwas! Ich runzelte verärgert die Stirn. Ich nahm die Hand von der Kerze weg und schlug mit der Fauste ein wenig auf den Tisch. Die Kerze wackelte und ich hielt sie schnell fest, damit sie nicht umfiel. Und plötzlich spürte ich sie... Die Magie... Sie war schon die ganze Zeit da gewesen. Ich habe sie nur übersehen, ich Idiot! Sie war die ganze Zeit da, wo ich sie gesucht hätte! Sie war die ganze Zeit da und ich habe nicht gewusst, dass es die Magie war... Manchmal bin ich aber auch doof. Ich grinste ein wenig scheif, hatte die Augen aber noch immer geschlossen. Jetzt hieß es die Magie in Feuer zu manifestieren... Irgendwie... Ich überlegte wie ich das wohl am besten anstellen würde und stellte mir einfach die brennende Kerze vor und-

Ich wurde jäh aus meinen Gedanken und Überlegungen gerissen. Heißer Wachs träufelte auf meine Hand, die noch immer die Kerze festhielt. Ich blinzelte überrascht.
»Huh?« kam nur aus meinem Munde heraus, die vorher noch das Wort: »Ignis.« gesprochen hatten.
»Wasn da passiert?«